Ereignisse und Beobachtungen

Klage

Zehn Jahre nach seinem ersten Internet-Tagebuch "Abfall für alle" veröffentlicht Rainald Goetz seinen Weblog "Klage" in Buchform, ein poetisches und im weitesten Sinn politisches Textgewebe, das Bestandsaufnahme der allerjüngsten Vergangenheit ist.

Rainald Goetz ist ein Autor, der das gute alte Buch mit den neuen Medien zu verbinden weiß. Bereits 1998 initiierte er ein Internet-Tagebuch und veröffentlichte es ein Jahr später in Buchform unter dem Titel "Abfall für alle". Jetzt, genau zehn Jahre später, gibt Goetz das Weblog "Klage", der auf den Internetseiten der Zeitschrift "Vanity Fair" zu finden war, als Buch heraus.

Deutschlands Politiker

"Abfall für alle" ergab eine Art intellektuelle Junggesellenmaschine, in der Tagesabläufe, Begegnungen mit Persönlichkeiten des kulturellen Lebens und Reflexionen über die Kunst generiert wurden. "Klage" ist eine Fortführung dieses Projekts, wobei Goetz stärker auf politische Ereignisse eingeht. So beklagt der Autor das Unvermögen deutscher Politiker, halbwegs rhetorisch gekonnte und inhaltlich interessante Reden zu halten.

Wie ihr Vorgänger Schröder ist die Kanzlerin Merkel keine besonders gute Bundestagsrednerin. In ihrer Zeit als Oppositionsführerin hat sie nicht wenige wichtige Reden regelrecht in den Sand gesetzt, unspektakulär, fehlerhaft, schlaff. Das von unten her Angreifen und Zubeißen hat ihr überhaupt nicht gelegen. Auch das Gegenteil, die gehobene Rede zum besonders erhebenden Anlass, gelingt ihr nicht.

Nur mit Merkels Reden "mittlerer Reichweite und von fassbarem politischem Inhalt" ist der Schriftsteller Goetz einverstanden. Hätte Goetz österreichische Politiker im Visier gehabt, dann wären selbst auch Reden von solch mittlerem Polit-Radius wahrscheinlich seiner Klage zum Opfer gefallen. Doch reicht das alles aus, um ein Buch mit dem Wort "Klage" zu betiteln?

Daniel Kehlmanns "gut lesbare" Bücher

"Klage" - man denke etwa an die "Nibelungenklage" - ist ein sehr starkes Wort. Und in der Tat besteht Goetz' "Klage" aus "Klagelein", kleineren Ereignissen und Beobachtungen, die dann den Begriff "Klage" rechtfertigen sollen. So etwa, wenn Rainald Goetz auf den Schriftstellerkollegen Daniel Kehlmann trifft und über ihn und seine Bücher folgendes Urteil fällt.

Daniel Kehlmann besteht zu 99 Prozent aus Bildung, Klugheit und Literatur. Daraus kann man flüssig und lässig gut lesbare Bücher machen, viele werden es noch werden (...). Aber für die Welt der Erkenntnis, der Kunst, für das wirkliche Leben also ist diese Art von Literatur komplett belanglos.

Rainald Goetz erhebt also seine Klage und klagt im Sinne der Kunst der Moderne an, denn die hat ja die hohe Vorstellung, dass Kunst Erkenntnis bringe und mit dem Leben sich verbinde. Daniel Kehlmann erscheint so als junger Ästhet der Postmoderne, der mit der Historie, mit Inhalten und Stilen perfekt jonglieren kann.

Die "Sozialtextkunst" des Thomas Bernhard

Kehlmanns Gegenspieler ist für Goetz Thomas Bernhard, den er zum "größten Texthysteriker" aller Zeiten erhebt. Auch Bernhard habe auf oft ironische, bissige Weise die Klage erhoben, entstanden sei so "asoziale Kunst", besser gesagt: "Sozialtextkunst".

Man muss die Argumentation von Rainald Goetz keineswegs teilen und man darf seinen Kehlmann weiterhin lieben. Um echte Auschlussmechanismen im Sinne eines avantgardistischen Kunstcredos geht es Goetz keineswegs. Er möchte vielmehr die Debatte über zeitgemäße Kunst und Kultur am Leben erhalten und im richtigen Leben verankern. Und wenn Goetz so manche Feuilletonbeiträge in den großen deutschen Zeitungen kritisiert, weil deren Autoren sich in der Hauptsache als Bestsellermacher begreifen, dann hat er nicht so ganz Unrecht.

Zeitgeist im besten Sinne

Rainald Goetz' autobiografisches Buch "Klage" wartet aber auch - ganz unerwartet! - mit einigen poetischen und lyrischen Textstellen auf.

Klagen und Fälle. Die Welt sei fern und heimlich höher als der Wind, der Wirrnis bringt, die Helligkeit der Überschriften angeprangert lässt. Grasrand, Bauanleitung, Nagelrost. Adler Hase, Kummer, Tat. Mücke, Falke, Wolkenzug. Anstatt zu fliehen, rennen DIE MENSCHEN zum Feuer hin.

Rainald Goetz' autobiografisches Buch "Klage" ist keine Junggesellenmaschine eines intellektuell Getriebenen. Es ist ein poetisches und im weitesten Sinn politisches Textgewebe, das Bestandsaufnahme der allerjüngsten Vergangenheit ist. Als Leser fällt es leicht, sich in die Reflexionen des Autors einzumischen, sie zu bestätigen oder ihnen zu widersprechen - und dadurch einen eigenen Standpunkt zu gewinnen.

Somit ist Rainald Goetz' "Klage" derart "Zeitgeist", so dass dieses doch abgewirtschaftete Wort wieder klingende Bedeutung erhält. Ach ja! Rainald Goetz nimmt seine Leser auch mit auf seine Erkundungstouren durch Szenelokale, Bars und Clubs zwischen Berlin und München. Das ist dann angewandter Zeitgeist.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Rainald Goetz, "Klage", Suhrkamp Verlag 2008

Link
Suhrkamp - Rainald Goetz