Ein moderner Schelmenroman

Lazarus

Aleksandar Hemon ist mit "Lazarus" ein moderner Schelmenroman gelungen. Darin begibt sich der Möchtegern-Schriftsteller Vladimir Brik auf den Spuren eines alten Kriminalfalls auf eine Reise durch das postkommunistische Osteuropa.

Mit lakonischer Ungerührtheit und robustem Witz wird von den grauenhaftesten Dingen erzählt. Es geht um Verlust, Angst, Armut, Pogrome und Kriege, aber auch um die Tricks des Überlebens und um eine Tapferkeit jenseits moralischer Begriffe aus satten Bürgerstuben. Ein moderner Schelmenroman, der neben seinen unzähligen Geschichten und Geschichtchen auch das Erzählen selbst zum Thema hat.

100 Jahre zuvor

Er überreichte mir ein Kuvert, auf dem mein Name und meine Adresse standen. (...) Ich nahm mir nicht die Zeit, das Kuvert näher zu untersuchen. Blitzartig kam mir der Gedanke, dass der Mann nichts Gutes im Schilde führte. Er sah mir aus wie ein Anarchist. Ich packte seine Arme, drehte sie ihm auf den Rücken und rief nach meiner Frau.

Das gibt Chief Chippy, Polizeichef von Chicago, 1908 zu Protokoll, nachdem er den 19-jährigen jüdischen Einwanderer Lazarus Averbuch erschossen hat. Dieser historisch verbriefte Fall ist Ausgangspunkt von Aleksandar Hemons Roman "Lazarus".

Einwanderer aus Bosnien

Der Held des Romans ist jedoch nicht Lazarus, sondern der fiktive amerikanisch-bosnische Möchtegern-Schriftsteller Vladimir Brik, der sich 100 Jahre später auf die Spuren des jungen Mannes setzt. Da er selbst ein Einwanderer ist und zwar aus dem Bürgerkriegs-Bosnien der 1990er Jahre, und nun im Chicago der Bush-Ära lebt, umgeben von Islamisten-Angst, fühlt er sich dem jungen Lazarus verbunden, der auf der Flucht vor den Judenpogromen der Alten Welt in die Anarchisten-Hysterie der Neuen Welt geraten war.

Bizarre Geschichten

Ausgestattet mit einem zweifelhaft erworbenen "Stipendium" einer amerikanischen Charity-Lady mit Schwäche für arme Bosnier, plant Brik ein Buch über Lazarus zu schreiben. Um dessen Spuren zu folgen - und wohl auch um der Ehe mit seiner tüchtigen, moralisch stets überlegenen und ihn aushaltenden amerikanischen Frau zu entgehen - tritt er eine Reise durch das postkommunistische Osteuropa an.

Begleitet wird er dabei von seinem Jugendfreund aus Sarajevo, dem Fotografen und gewieften Lebenskünstler Rora. Rora hat die Belagerungszeit in Sarajevo erlebt und erweist sich als unermüdlicher - wenn auch nicht ganz seriöser - Erzähler von grotesken Geschichten über Milizenführer und Gangster und deren bizarres Wirken zwischen den zerschossenen Häusern der Stadt. Ihre abenteuerliche Reise in einem übel riechenden Wagen führt Brik und Rora vom ukrainischen Lemberg über Moldawien und Belgrad bis nach Sarajevo. Sie begegnen korrupten Zöllnern, Geldwäschern, Huren, Geschäftsmännern und Menschenhändlern, besuchen verfallende Friedhöfe und groteske Heimatmuseen.

Überall an den Wänden hingen Porträts der Sowjethelden aus der Umgebung, die für die Freiheit des Heimatlandes gefallen waren. (...) In einer Vitrine waren in der Umgebung gefertigte Schrauben und sonstige Metallteile ausgestellt, eine andere enthielt einzelne Schuhe verschiedener Größen.

Das grüßte Land der Welt

Aleksandar Hemon verknüpft mit großer Raffinesse das Jahrhundertwende-Schicksal des Lazarus Averbuch mit dem Leben von Flüchtlingen der letzten Jahrzehnte. Er schildert Lazarus Averbuchs Flucht aus dem gefährdeten Schtetl in Russland, sein hartes Leben in Amerika, seinen frühen Tod und das Leiden seiner Schwester Olga, die als nächste Verwandte des angeblichen Anarchisten-Attentäters Übergriffen der Polizei, Nachstellungen der Presse und dem Druck der sich abgrenzenden Nachbarschaft ausgeliefert ist.

Aus alten Zeitungsberichten, Verhörprotokollen, historischen Fotografien und Briefen lässt Hemon Lazarus von den Toten auferstehen. Andererseits kommentiert sein Erzähler Brik den amerikanischen Alltag von heute und fabuliert mit Rora über bosnische Kriegsschurkereien. Dabei gelingt es Hemon, die Identitäten zu verschränken. Lazarus, Brik und Rora haben vieles gemeinsam. Vor allem die verlorene Heimat.

Wenn du nicht nach Hause kannst, kannst du nirgendwohin, und Nirgendwo ist das größte Land der Welt, ja die Welt selbst.

Autobiografische Fiktion

Amerika liebt die fleißigen, anspruchslosen Immigranten, aber nicht den willensschwachen Träumer und stolzen Taugenichts. Lazarus wollte Schriftsteller werden, Brik versucht einer zu sein. Und Rora ist mit seinen bosnischen Lügenmärchen und seiner kleinkriminellen Lebenstüchtigkeit auch nicht gerade ein Einwanderer-Ideal. Es hat also tragische wie komische Momente wenn sich Brik im Schicksal von Lazarus wiedererkennt.

Es gibt noch eine weitere Spiegelung: Der sympathische, schlitzohrige Erzähler hat Ähnlichkeiten mit seinem Erfinder. Auch Aleksandar Hemon ging 1992 von Sarajevo nach Chicago, wo er sich mit allerlei Jobs über Wasser hielt, bis er sich als Schriftsteller einen Namen gemacht hatte. Sein Roman "Lazarus" ist eine Mischung aus autobiografischer Fiktion, historischer Rekonstruktion und fotografisch genauem Erzählen - mal osteuropäisch fabulierend, mal nüchtern dokumentierend.

Mit lakonischer Ungerührtheit und robustem Witz wird von den grauenhaftesten Dingen erzählt. Es geht um Verlust, Angst, Armut, Pogrome und Kriege, aber auch um die Tricks des Überlebens und um eine Tapferkeit jenseits moralischer Begriffe aus satten Bürgerstuben. Ein moderner Schelmenroman, der neben seinen unzähligen Geschichten und Geschichtchen auch das Erzählen selbst zum Thema hat.

Service

Aleksandar Hemon, "Lazarus", aus dem Englischen übersetzt von Rudolf Hermstein,. Knaus Verlag

Knaus Verlag - Lazarus