Erfindungen münden in Veränderungen
Die Verwandlung der Welt
Warum mündete das 19. Jahrhundert im Ersten Weltkrieg? Wäre dieser vermeidbar gewesen? Ja, meint Jürgen Osterhammel in einer monumentalen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Osterhammel ist ein Werk gelungen, das durch seinen Facettenreichtum besticht.
8. April 2017, 21:58
Ganz unzeitgemäß hat der Zeithistoriker Jürgen Osterhammel als Einzelgänger, ja, fast als Eremit an seinem Buch Jahre hindurch gearbeitet. Herausgekommen ist "Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts", in 18 Kapiteln, die wieder unterteilt sind, auf 1.300 Seiten, plus 200 Seiten Anmerkungen, Literaturangaben und Register.
Das alles mag abschrecken. Doch der Geschichtsprofessor kann schreiben, unakademisch, für jedermann, der über das 19. Jahrhundert mehr - viel mehr! - wissen will. Und da er alles selbst geschrieben hat, ist das Ganze auch ein Wurf geworden. Ein Wurf, der nicht als Monolith erstrahlt, sondern durch seinen Facettenreichtum.
Veränderung durch Pressefreiheit
Schlägt man das Buch auf, so ist man verblüfft. Es beginnt nicht mit der Beschreibung der europäischen Großmächte oder mit der Kolonialpolitik, es geht erst einmal über "Archive", "Museen", über die Macht der Statistik - und über "Die Presse und ihre Freiheit".
Die Presse schuf überhaupt erst so etwas wie einen öffentlichen Raum.
Diese Entwicklung war in ganz Europa und in Übersee natürlich durch all die liberalen Kräfte getragen, die ideell Pressefreiheit als bürgerliches Gut einforderten. Aber dass, mehr oder weniger, dann wirklich Pressefreiheit vorherrschte, verdankt sich einer technischen Innovation, die keine noch so konservative Gesinnung stoppen konnte: die Verkabelung der Welt durch den Telegrafen.
1885 war Europa von nahezu allen großen Städten in Übersee per Kabel erreichbar. Der Telegrafenverkehr war viel zu schwerfällig, überlastungsgefährdet und teuer (1898 gab die "Times" 15 Prozent ihres Jahreserlöses für Telegrafengebühren aus), um schon als ein 'viktorianisches Internet' bezeichnet werden zu können, aber zumindest die Grundmuster eines 'world wide web waren' gelegt.
Vom eigenen Sendungsbewusstsein überzeugt
Das Beispiel Pressefreiheit und Telegrafenkommunikation zeigt schön, worauf Osterhammel immer wieder hinweist: Ideelle Vorstellungen und Ziele werden im 19. Jahrhundert dann Wirklichkeit, wenn ihnen eine von ihr völlig unabhängige Erfindung oder Tat unter die Arme greift.
So ist der Kolonialismus für den Autor eine durch den Staatswillen willkürliche und zum Teil brutale Machtdemonstration. Zugleich hatten die europäischen Kolonialmächte tatsächlich die ideelle Vorstellung, europäische Lebensart und Verhaltensnormen aufklärerisch zu exportieren.
Man kann es auch so sagen: In keinem anderen Jahrhundert wie dem 19. war Europa so sehr von seiner eigenen Stärke und vom eigenen Sendungsbewusstsein überzeugt. Nur in einem Punkt übertrafen die Vereinigten Staaten von Amerika am Ende dieses Jahrhunderts Europa: Die Reichen waren wesentlich reicher.
An der obersten Spitze verfügten 1 Prozent der amerikanischen Familien über 40 Prozent des nationalen Eigentums. (...) Die Astors, Vanderbilts, Dukes oder Rockefellers stellten mit ihrem märchenhaften Reichtum die Europäer in den Schatten und gaben sich in einem öffentlich inszenierten Luxuskonsum hin, der weltweit publiziert wurde.
Ein neues "Weltgefühl"
Das ist natürlich ein weiteres großes Plus von Osterhammels Darstellung: Er geht zwar bei seinem historischen Rundgang durchs 19. Jahrhundert von Europa aus, aber zieht in seine Betrachtungen immer und jederzeit die USA, Russland, die Kolonien, Großräume wie das Osmanische Reich und China, man muss eigentlich sagen, die Welt mit ein.
Das alles hat nichts mit Megalomanie zu tun, sondern entspricht der geschichtlichen Wirklichkeit: Im 19. Jahrhundert wurde durch die neuen Kommunikationswege, durch Eroberungen und vor allem durch Kolonialisierung, durch internationalisierte Wirtschaftsbeziehungen, durch eine liberalere Gesetzgebung, die ein breiteres, am Weltgeschehen interessiertes Bürgertum entstehen ließ, und durch ein verbessertes Bildungssystem erstmals in der Geschichte so etwas wie ein "Weltgefühl" am Horizont sichtbar.
Die europäischen Weltmächte, das Britische Empire, Frankreich, Deutschland-Preußen, Österreich-Ungarn und zum Teil Russland ignorierten trotz zahlreicher Kleinkriege dieses neue "Weltgefühl" keineswegs. Und trotzdem waren sie nicht in der Lage, dieses Weltgefühl in einen "Weltfrieden" umzugießen.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 war keineswegs unvermeidlich. Jedoch hätte es auf allen Seiten eines außergewöhnlichen Maßes an Staatskunst, militärischer Zurückhaltung und Zügelung nationaler Sentiments bedurft, um angesichts der sich aufbauenden Konfliktdynamik einen Zusammenstoß zumindest von einigen der europäischen Großmächte zu verhindern.
Keine nationalen Gefühle in Österreich-Ungarn
Jürgen Osterhammel spricht das Britische Empire und Frankreich keineswegs frei von Mitschuld am tragischen Geschehen, doch die Hauptakteure werden klar benannt: Das Deutsche Reich wurde nach dem Sieg im deutsch-französischen Krieg 1870/71 im Spiegelsaal von Versailles verkündet. Damit begann nicht nur die große Militarisierung Deutschlands, sondern auch die Mobilisierung eines Nationalgefühls, mit dem die Deutschen keinerlei Erfahrung hatten.
Auf der anderen Seite stand Österreich-Ungarn. Für Osterhammel repräsentiert der Vielvölkerstaat eine geradezu hoch-liberale Gesinnung, denn in ihm wurden die einzelnen großen Volksgruppen wenig unterdrückt. Das Problem dabei: Österreich-Ungarn konnte zu keinem Zeitpunkt seines Bestehens nationale Gefühle und Patriotismus bei seinen Bewohnern erzeugen. Das Gebilde blieb schwammig, klein- und kleinst-nationale Bestrebungen zerrten an der Peripherie der Donaumonarchie.
Die Verbindung zwischen dem Deutschen Reich mit seinem neuen und schwer zu kalkulierendem Nationalbewusstsein und Österreich-Ungarn, das keinerlei Nationalgefühl entwickeln konnte, erzeugte bei den anderen europäischen Weltmächten kein "Weltgefühl", sondern Ratlosigkeit, was wiederum zum Erstarken des eigenen Nationalgefühls führte. So mündete das zarte "Weltgefühl" des 19. Jahrhunderts in den Ersten Weltkrieg.
Chronistisches Mosaik
Jürgen Osterhammel spricht oft im Zusammenhang seines Buches von der "großen Erzählung". Ist "Die Verwandlung der Welt" eine solche? Ja, aber das Buch erzählt von kleineren und größeren Begebenheiten und erst ihr Autor fügt diese zu einem großen Mosaik zusammen. Er tut dies ohne Willkür, sondern eher bescheiden als Chronist. Herausgekommen ist ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung, das seinesgleichen in den kommenden Jahren kaum finden wird.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Buch-Tipp
Jürgen Osterhammel, "Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts", C. H. Beck
Link
C. H. Beck - Jürgen Osterhammel