Das Gegenteil eines Diktators

Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao

Junot Díaz Debüt ist die Geschichte eines dicken, liebenswürdigen Computernerds, der sich vor der Welt und den Frauen fürchtet. Was wiederum sehr viel mit seiner grimmigen Mutter zu tun hat, die sich abschuftet, um die Familie durchzubringen.

"Es war schrecklich. Ich stritt mich gerade mit der Frau, die ich am allermeisten liebte. Wir hatten einen dieser schwarzen Tage, die man manchmal in einer Liebesbeziehung hat. Es war also nicht so ein großartiger Moment, wie es hätte sein sollen. Ich hätte gerne jeden Pulitzer Preis dafür hergegeben, wenn es uns nur besser gegangen wäre. Jetzt ist alles wieder gut."

Ein muskulöser Mann mit ernstem Blick und einem Mund, der von einer Sekunde auf die andere verächtliche, liebenswürdige, amüsierte Formen annehmen kann, spricht über sein Debüt, an dem er elf Jahre lang arbeitete. Als Erzählung wurde "Das kurze, wundersame Leben des Oscar Wao" zuerst vom Magazin "The New Yorker" abgedruckt, für den Junot Díaz übrigens regelmäßig Kurzgeschichten zuliefert. Warum er so lang brauchte? Ich habe gewartet, bis mein Kopf den Roman einmal richtig durchgespielt hat, ist die Antwort.

Autor und Autorität

Wahrscheinlich gibt es aber mindestens noch einen anderen Grund: Junot Díaz, der mit sechs die Dominikanische Republik verließ, in der sein Vater im Militärapparat des Diktators Trujillo eine Rolle gespielt hatte, hat mächtige Skrupel, ein Autor zu sein. Autor und Autorität haben einen verdächtig ähnlichen Klang und Stamm, findet er. Aber Díaz geht noch einen Schritt weiter. Er behauptet: Diktatoren und Schriftsteller haben eine Menge Gemeinsamkeiten.

"Ich glaube, wir Schriftsteller nutzen unsere Fähigkeiten, wenn es gut läuft, dazu, die Leser in Kontakt mit ihrer Menschlichkeit zu bringen, sie neu zu organisieren, vielleicht auf eine organischere Art und Weise", meint Díaz. "Die Tatsache, dass Diktatoren und Schriftsteller so viel gemeinsam haben, hat zur Folge, dass viele Autoren sehr ambivalent sind, was den Prozess des Geschichtenerzählens angeht. (...) Als Schriftsteller kannst du nicht anders als zu denken, viel würde nicht fehlen, und ich könnte auch einer sein.

Es könnte auch anders gewesen sein

Um die Herrschaft einer singulären Erzähler-Autorität zu brechen, führt Díaz in seinem Roman viele Erzählperspektiven ein. Die toughe Schwester des liebenswürdigen Weicheis Oscar erläutert ihre Sicht der Dinge, ein Playboy namens Yunior erzählt aus seiner Perspektive. Zeitsprünge, Rückblicke erklären, wie das Schicksal Oscars auf die verhängnisvolle Bahn gebracht wurde.

Reichliche Fußnoten machen in schnoddrigem Slang deutlich, dass alles auch eine Wendung anders gewesen sein könnte als im Haupttext weiter oben behauptet. Und die vielen spanischen Begriffe, mit denen der Roman durchsetzt ist, muss der Leser hinten in einer zehnseitigen Liste nachschlagen. All das schafft Distanz.

"Als Leser mögen wir es nicht, wenn der Autor die Stimme des Erzählers, die oft allwissend, beherrschend, unhinterfragbar ist, durch eine weitere unterbrechen lässt oder ihr sogar widerspricht", so Díaz. "Dies ist eine Geschichte darüber, wie heftig wir uns Autoritäten wünschen. Nicht nur in Büchern, sondern auch in der Politik."

Herzzerrißend und surreal

Díaz bietet hier das Gegenteil einer spannenden Verschmelzungslektüre, die durch den Einsatz eines auktorialen Erzählers ermöglicht würde. Aber er driftet andererseits auch nicht ab in ein widerborstiges experimentelles Erzählen. Sein Stil ist gerade eben so chaotisch, dass der Leser noch folgen kann und die vom Autor geschaffene Distanz nicht als zerstörerisch empfindet. Es ist die Distanz zu einer Geschichte, die einen sonst unter ihren wild-drastischen Szenen, ihrer mitreißenden Fremdheit, ihrer gellenden Tragikomik vielleicht einfach begraben würde.

Díaz beschreibt herzzerreißende und surreal brutale Szenen: vom Diktator der Dominikanischen Republik Trujillo - der tatsächlich 30 Jahre lang dort Angst und Schrecken verbreitete -, wie er die Männer seiner Insel erniedrigt, weil er sich das Recht heraus nimmt, ihre Frauen und Töchter zu besteigen, darunter auch das Mädchen Beli. Wie sich die geschändete, traumatisierte Beli in ein beinhartes, alleinerziehendes Muttermonster verwandelt, das Oscar und seiner Schwester Lola das Leben schwer macht. Wie die Scham Oscars großes Thema wird: Die Scham, zu dick zu sein, die Scham, kein Mann zu sein, die Scham, seiner Mutter zu wenig zu helfen, die Scham, nicht von ihr loszukommen. Die Scham macht ihn windelweich. Und prädestiniert ihn für die Rolle des Opfers: Opfer seiner Mitschüler, seiner Kommilitonen, seiner Verwandten. Und zum Opfer von Mädchen, die sich bei ihm über die Machoallüren anderer Jungs ausweinen, ihn ausnutzen, statt ihn zu lieben.

Lieber lesen als schreiben

Oscar ist Díaz' Anti-Held, der größtmöglich vorstellbare Gegensatz zu einem Diktator. "Die Sache ist doch die: Als menschliche Wesen scheinen wir ein Talent dafür zu besitzen, uns in politisch miserable Verhältnisse zu manövrieren", meint Díaz. "Wir sind von einem tiefen Verlangen nach der Illusion von Zusammenhang, Sinn und Einheit durchdrungen. Auch wenn wir uns und alle anderen auf dem Weg dahin zerstören müssen. Ich denke, man kann die Dominikanische Republik nicht verstehen, ohne ihre Tradition zu kennen: Eine Tradition der Sklaverei und der permanenten Vergewaltigung. (...) Aber das Buch will ja nicht erklären, wie es zu einer Diktatur kommt, sondern den Leser daran erinnern, dass wir alle empfänglich sind für diese Art des Denkens: einfach und simpel, versessen auf schnelle Antworten und ohne Skrupel, gewissen Menschen ihre Menschlichkeit abzusprechen."

"Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao" ist der furiose Einstieg Junot Díaz', dem - da ist der Autor sicher - weitere Romane folgen werden. Aber wenn er wählen dürfte, würde er lieber mit Lesen statt mit Schreiben sein Geld verdienen, sagt er in einem Internet-Interview der New York University. Das wird nicht klappen, denn sowohl die "New York Times" als auch der "New Yorker" haben den 41-Jährigen zu einer der wichtigsten neuen Stimmen Amerikas erklärt.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Junot Díaz, "Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao", aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von von Eva Kemper, S. Fischer Verlag

Link
S. Fischer - Junot Díaz