Bayrische Satire von Ludwig Thoma

Ein zorniger Lausbub

Die "Lausbubengeschichten" des bayrischen Advokaten und Schriftstellers Ludwig Thoma sind scharfe Gesellschaftssatiren - umso schärfer, als Thoma darin selbstverständlich die eigene sehnsuchtsvolle, vaterlose Jugend im späten 19. Jahrhundert aufarbeitet.

Alois Hingerl, der Dienstmann Numero 172 auf dem Münchener Hauptbahnhof, ist wohl ein unverdächtiger Kronzeuge: Eines Tages fiel er - anstatt als gemütlicher Bayer schön langsam seinen "Schmalzler" zu schnupfen - aus ebendieser Rolle und infolgedessen tot um. Er hatte einen Auftrag mit ganz und gar ungebührlicher Hast erledigen wollen.

Der Engel Aloysius

Gleich darauf fuhr Hingerl, wie sich's für einen katholischen Bayern gehört, stante pede in den Himmel auf, allwo es gewiss alles Mögliche, sogar eine ewige Seligkeit, aber ebenso gewiss keine Maß Bier und keinen Schmalzler gibt.

Infolgedessen fällt dem Engel Aloysius das Frohlocken ausgesprochen schwer ("Halle-lujahhh! Himmäfix, -Luja !!! Ja, Sacklzement, -Luja sog i!"), und der einfühlsame Petrus ("Ah, da schau her - ein Baier!") gewährt ihm Seligkeitserleichterung durch irdischen Freigang: Der Engel Aloysius, vormals Hingerl, darf als Sendbote des Himmels der bayrischen Regierung die göttlichen Eingebungen überbringen.

Noch eine Maß

Jetzt kommt aber der Engel Aloysius, es geht gar nicht anders, auf dem Weg zur Regierung übers Hofbräuhaus geflogen, und den Hingerl in ihm packt augenblicklich ein geradezu überirdisches Verlangen, und er fliegt erst einmal hinein ins Hofbräuhaus und bestellt sich eine Maß.

Und dann bestellt er sich noch eine Maß und noch eine ... So sitzt er noch heute da, und...

... und das königlich bayrische Landgericht verurteilte 1911, als dieses Kleinod an original bayrischer Selbstironie erstmals erschien, den Autor Ludwig Thoma wegen des Schlusssatzes zu einer Geldstrafe. Und beglaubigte damit amtlich die Richtigkeit der Thoma'schen Pointe, die nämlich lautet:

Und so wartet die bayrische Regierung bis heute auf die göttlichen Eingebungen.

Eine gutgehende Schriftstellerei

Diese Geschichte vom "Münchner im Himmel", eigentlich bloß ein - wenn auch glänzend gelungenes - Nebenprodukt aus der gutgehenden Schriftstellerei des studierten Rechtsanwaltes Ludwig Thoma, wurde die meistgedruckte, -zitierte, -verfilmte, die meistvorgelesene aus Thomas gesamtem Oeuvre und war, an der Vervielfältigung gemessen, erfolgreicher sogar als die (zeitlich vorangegangenen) "Lausbubengeschichten" und die (zeitlich zwischengelagerte) "Moral", das beste seiner Theaterstücke, das es ihm 1909 ermöglichte, die Advokatur an den Nagel zu hängen und als freier Schriftsteller in Rottach am Tegernsee zu residieren.

Und der (im Hofbräuhaus zwar, aber immerhin) verewigte Dienstmann Alois Hingerl wäre nun Kronzeuge wofür? Oder: wogegen?

Gott- und Geistverlassenheit
Der Alois Hingerl ist Kronzeuge jeglicher Anklage gegen Satiriker, die sich, anstatt brav ihre Witze zu reißen, auch noch der Selbstironie bedienen, was, als Überforderung nicht nur betroffener Regierungen, mit Recht bestraft wird.

Und Kronzeuge für die zwar zeitgebundene, an sich aber ganz allgemeine Klage, dass einer wegen Feststellung der Gott- und Geistverlassenheit auch königlicher Regierungen durchaus mit einer Geldstrafe davonkommt, der Nämliche aber, so er sich gleich direkt mit Sitte, öffentlicher Moral und Klerus anlegt, sofort weggesperrt wird.

Das widerfuhr dem damals, 1906, knapp 40-jährigen, wild gegen den politisierenden Klerus polemisierenden "Simplicissimus"-Autor Thoma, als er in einem (rechtschaffen schlechten) Gedicht den kirchlich geleiteten Deutschen Sittlichkeitsverein zu Köln anflegelte. (In den daraus resultierenden sechs Wochen Arrest in München-Stadelheim konzipierte er, passenderweise, sein Stück "Moral" wider die Heuchler und Kerzlabschlecker allerorten.)

Hirn- und Seelenlosigkeit der Lehrerschaft

Der Doctor juris Ludwig Thoma, Forstmeisterssohn aus Oberammergau, war ein zartes und verletzliches Kind gewesen, aus dem der frühe Verlust des Vaters, das Hin- und Hergeschobenwerden zwischen den Verwandten, die Hirn- und Seelenlosigkeit einer verspießerten Lehrerschaft, die Hilflosigkeit der geliebten Mutter gegenüber den mitmenschlichen Gemeinheiten und der allgegenwärtige Katholizismus im Bayern um 1875 einen rotzbübischen Zornbinkel gemacht hatten.

Der flegelt und rüpelt, ängstet und spottet, lügt und missetut und leidet sich durch die berühmten "Lausbubengeschichten", deren erste Sammlung Ludwig Thoma 1905, gleich nach der antiklerikalen Satire "Der Heilige Hies", erscheinen ließ.

Diese "Lausbubengeschichten", obwohl vom Autor selber als "Erinnerungen an die ferne Knabenzeit" verharmlost, beziehen ihre Lustigkeit und ihren Witz vordergründig aus der urwüchsig-naiven Kunstsprache, die Thoma seinem halbwüchsigen Ego, dem Ludwig, als satirische Finte in den Mund legt.

Hochmoralische Rotzpipen

Innerlich aber sind diese "Knabenstreiche" zornige Ausbrüche einer tief verwundeten, empörten Bubenseele: Der Lausbub lügt wie gedruckt - aber nur, weil man ihm die Wahrheit nicht glaubt; er rebelliert gegen Schullehrer - aber nur, weil er sich die Lächerlichkeit von Popanzen nicht von Sonntagspredigern ausreden lässt; er sprengt einem Spielkameraden sein Modellkriegsschiff in die Luft - aber nur, weil der ein militaristischer Idiot ist; er ekelt die Tante Frieda aus dem Haus - aber nur, weil die seine Mutter aufs bösartigste sekkiert und kränkt. Er ist, der Ludwig, mit einem Wort eine hochmoralische Rotzpipen.

Er, der Ludwig, hat, genau genommen, fast immer recht. Und falls ausnahmsweise einmal nicht so ganz, hilft ein Blick aus der verzweifelten Knabenseele hinaus auf eine Welt, in der dem Lehrer Bindinger, der ständig ein nützliches Mitglied der Gesellschaft aus einem machen und einem gleichzeitig die ältere Schwester wegehelichen will, jeden Tag, sommers wie winters, der Frühstückseidotter im Bart pickt.

Intellektueller Rabauke

Der erwachsene Ludwig Thoma blieb der zornige, lederhosenaffine, aber kreuzintellektuelle Rabauke, der in seiner Leidenschaftlichkeit auch gegen Ausritte ins Nationalistische, Militaristische, ja, Antisemitische nicht gefeit war.

In diesen Phasen seines ansonsten unzweifelhaften Dichtertums hätte ihm sein Engel Aloysius gut getan... Aber vielleicht sitzen sie ohnehin beide längst in einem elysischen Hofbräuhaus und haben die Politik ganz aufgegeben. Den anhaltenden Zustand nicht nur der bayrischen Regierung würde das jedenfalls erklären.

Hör-Tipp
Patina, jeweils Sonntag, 19. April bis 10. Mai 2009, 9:05 Uhr

Links
Uni Regensburg - Ludwig Thoma
YouTube - Ein Münchner im Himmel