Erzählungen von Wassili Grossman

Tiergarten

Wassili Grossmans 15 Erzählungen entstanden zwischen den 1930er und den 1960er Jahren. Ins Deutsche übersetzt wurden sie aber erst jetzt. An den - großartigen! - Geschichten ist deutlich die Entwicklung des Autors abzulesen.

Was das Russische an der russischen Literatur ausmacht, ist gleichermaßen banal wie kompliziert zu beantworten: Gogol, Dostojewskij, Tolstoj, Tschechow oder Mandelstam schreiben - russisch. Zugleich ist dieses Russische aber synonym mit existenziellem Pathos, mit den sogenannten ewigen Fragen nach Gut und Böse, Leben und Tod, zu deren Beantwortung Russlands Autoren immer wieder - wenn auch auf je unterschiedliche Weise - genötigt werden.

Der jüngste Erfolg des russischen Romanciers Wassili Grossman (1905-1964) hat ohne Zweifel damit zu tun, dass sein Roman "Leben und Schicksal" seinerzeit "verhaftet" und verboten wurde. Ein derartiges Opfer imponiert, vor allem wenn es dabei noch um eine andere, neue Wahrheit über den ewigen Mythos Stalingrad geht - die Schlacht an der Wolga als Stalins Triumph und zugleich tragische Niederlage des russischen Volkes. Die 15 Erzählungen unter dem Titel "Tiergarten" verdanken ihre - nebenbei vortreffliche - Übersetzung ins Deutsche durch Katarina Narbutovic vor allem solch "außerliterarischen" Motiven: Verdient hätten sie die zwischen den 1930er und knapp vor Grossmanns Tod Anfang der 1960er Jahre entstandenen klassischen Storys jedenfalls schon längst!

Furcht und Schrecken des Stalin-Terrors

Stepanida Jegorowna Gorjatschewa, Abteilungsleiterin in einem der Volkskommissariate der Sowjetunion, fuhr am 29. Juli auf die Krim. Ihr Urlaub begann am 1. August.

Was in der zwischen 1938 und 1962 verfassten Geschichte über die Urlaubsreise einer jungen Sowjetbeamtin und ihre zurückhaltende alte Kollegin auf 15 Seiten zu Tage tritt, ist nicht weniger als Furcht und Schrecken des großen Terrors unter Stalin in Reinform: samt Verdächtigung, Wechselbad der Gefühle, Tod und Verschweigen aller Tragödien dieser Lebens, die für den Sozialismus nichts können. Während die alte Protagonistin von der Freilassung ihrer verhafteten Tochter erfährt und in Glück versinkt, lebt die junge mit der Nachricht über den Tod ihres Mannes, der im Krieg gegen die Japaner am Chalin Gol gefallen ist.

Mindestens drei Generationen

Das "Personal" von Grossmanns Erzählungen umfasst - wie es sich für einen großen Romancier fast gehört - zumindest drei Generationen: Da sind die alten Revolutionäre, die aus dem zaristischen Russland geflohen waren und als Anhänger Lenins ins Land der Oktoberrevolution zurückkehrten, deren Kinder und Enkelkinder, die unter Stalin ihre Karrieren machen oder dem System zum Opfer fallen, und schließlich Täter und Opfer der Nachkriegszeit, die sogenannten "Eliten" und das "einfache Volk".

Bezeichnend ist auch, dass Grossmann eine Reihe dieser Erzählungen vor dem Zweiten Weltkrieg beginnt und erst in der Zeit des "Tauwetters" fertig schreibt. Was die beklemmende Atmosphäre in der Erzählung "Einige traurige Tage", die 1939 im berühmten Dom Na Nabereshna, dem Wohnhaus für hohen Parteifunktionäre direkt neben dem Kreml, spielt, ausmachte, war dem Verfasser offenbar selbst erst nach dem Krieg klar: Die Welt war zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes von allen guten Geistern verlassen.

Ein bisschen Yankeetum, ein bisschen Psychologie

Wassili Grossmans sozialistischer Realismus bleibt auch nach dem Krieg von einer guten Portion Selbstzensur geprägt. Am deutlichsten wird das in "Abel (6. August)", einer Geschichte über den Abwurf der ersten Atombombe über Hiroshima. Alles, was an literarischem Weltwissen zur Verfügung steht, wird in die Beschreibung der amerikanischen Bomberbesatzung gepackt: ein bisschen Yankeetum, ein bisschen holzschnittartige Psychologie - der Bombenpilot Joseph, der den Knopf drückt, wird am Ende verrückt -, schließlich ein bisschen Bibel - "Abel, wo ist dein Bruder Kain", plus Naturwissenschaft:

Genau in diesem Moment beendet ein Stück Uran seinen Fall, und ein Teil von ihm verlor seine Stofflichkeit.

Wilder Zynismus

Das Buch des humanistischen Sozialismus wird allerdings alsbald geschlossen, der Tonfall ändert sich grundlegend. In der Titelerzählung "Tiergarten", der Geschichte eines Tierpflegers im Berliner Zoo zur Zeit der Eroberung der Hauptstadt des Dritten Reiches, werden aller Verlust der Menschlichkeit und aller Sarkasmus noch auf die Deutschen projiziert.

Der einstige Kriegs-Korrespondent Grossmann, der mit "Die Hölle von Treblinka" einen der ersten Berichte über ein deutsches Konzentrationslager nach dessen Befreiung geschrieben hatte, ergeht sich in seinen Nachkriegserzählungen schließlich in wildem Zynismus. Im Prosa-Essay "In ewige Ruhe" spaziert er wild spottend durch einen berühmten Moskauer Friedhof.

Schön ist es, auf dem Friedhof. Alles, was verwickelt und bedrückend war, ist leicht geworden.

Da läuft ein verrückt gewordener Folterknecht des NKWD zürnend wie im Jahre des Großen Terrors 1937 zwischen den Gräbern herum, und da wird von einem Friedhofswärter berichtet, der mit Schweinefleisch handelt. Die Tiere hatte er mit dem Fleisch von Leichen gefüttert.

Kurz, aber gut

In seinen spätesten Erzählungen braucht Wassili Grossmann mitunter nur ganze drei Seiten, um ein ganzes Leben zu erzählen. "Die Mieterin" Anna Borissowna Lomowa, der nach Jahren des Lagers und der Verbannung ein Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung zugewiesen wird, stirbt nach wenigen Tagen. Ein Busfahrer übernimmt ihr Zimmer. Nach dem Tod der Ex-Revolutionärin, Bürgerkriegsheldin und Majakowski-Freundin bringt der Postbote täglich die abonnierten Zeitungen, und schließ das formlose amtliche Schreiben über die Rehabilitierung des in den 1930er Jahren erschossenen Ehemannes. Keiner der in der Kommunalka-Küche herumsitzenden Kartenspieler weiß, was er damit anfangen soll.

"Was sitzen wir so rum. Wer gibt?" - "Wer verloren hat, der gibt".

Das Beste von diesem Genre

Von geradezu atemberaubender Meisterschaft sind schließlich auch Grossmans späte Tiergeschichten, die Anfang der 1960er Jahre, nach der Verhaftung seines Stalingrad-Romans durch die sowjetischen Behörden, entstehen. Die Erzählungen vom Straßenköter, der zu Forschungszwecken ins All geschossen wird, vom Maultier Giu, das mit der italienischen Armee in den Russlandfeldzug aufbricht, und einem ausgestopften Elch, der im Zimmer des schwerkranken Ingenieurs Dmitrij Petrowitwsch thront - sie gehören zum Besten, was in diesem Genre je geschrieben wurde. Grossmann allegorisiert nicht, und er verfällt nie in Sentimentalität, sein Erzählen besitzt jetzt die Schlichtheit von Volksdichtungen, fast sind es Märchen - aus einem Kosmos voll brennender Güte.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 17. April 2009, 16:55 Uhr

Ex libris, Sonntag, 19. April 2009, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Wassili Grossman, "Tiergarten. Erzählungen", aus dem Russischen übersetzt von Katharina Narbutovic, Claassen Verlag

Link
Claassen - Wassili Grossman