Geschichte chronologisch
Tagebücher 1 und 2
Insgesamt umspannen Sandor Marais Tagebücher fast ein halbes Jahrhundert. Die Bände 1 und 2, die jetzt von Piper veröffentlicht wurden, umfassen die Jahre 1943 und 1944. In diesen Tagebüchern beweist sich Marai als perfekter Diaririst.
8. April 2017, 21:58
Anfang 1943 entschloss sich Sandor Marai, in die innere Emigration zu gehen. Die Judengesetze in Ungarn, das zunehmende Abdriften der ungarischen Gesellschaft nach rechts, die Konzessionen des Horthy-Regimes an Hitler-Deutschland und das anschließende Kriegsbündnis mit den Nazis: Das alles ist Marai zu viel.
Er verzichtet darauf, weiterhin sein Sonntags-Feuilleton in der gemäßigt konservativen Tageszeitung "Pesti Hírlap" zu schreiben, das ihm Woche für Woche immerhin den dreifachen Monatslohn eines ungarischen Arbeiters eingebracht hat. Unter den Bedingungen der Zensur will Marai - damals immer noch der populärste Schriftsteller Ungarns - nicht länger publizieren. Stattdessen entschließt sich der damals 42-Jährige, Tagebuch zu schreiben. An seinem 43. Geburtstag notiert er:
Ich habe bisher 43 Jahre gelebt. Und wenn ich noch einmal so lange lebe? Und 86 bin? Werde ich dann mehr wissen? Glücklicher sein? Mehr Gewissheit über Gott und Mensch, das Natürliche und das Übernatürliche haben? Ich glaube nicht. Erfahrung bedarf der Zeit, aber jenseits eines bestimmten Grades der Erkenntnis vertieft die Zeit die Erfahrung nicht mehr. Ich werde einfach älter werden, nicht mehr und nicht weniger.
Eine irre gewordene Welt
Karl-Markus Gauß hat in seiner hymnischen Besprechung der Maraischen Tagebücher in der Hamburger "Zeit" die stilistische und inhaltliche Meisterschaft der beiden soeben bei Piper erschienenen Bände gepriesen. Gauß hält Marai für einen guten Romancier, aber einen noch besseren Diaristen, und da muss man ihm entschieden Recht geben.
Während das ungarische Bürgertum ab 1943 in zunehmender Barbarisierung versank, während die ungarischen Juden Eichmanns SS ausgeliefert wurden und die Pfeilkreuzler später in den Straßen Budapests Jagd auf wehrlose Juden machten, während dieser Zeit lebte Sandor Marai mit seiner halbjüdischen Frau Lola in dem Dörfchen Leányfalu 30 Kilometer nördlich von Budapest und versucht, den Krieg zu überleben und als Tagebuch-Schreiber nicht irre zu werden an einer irre gewordenen Welt. Menschliche Niedertracht, wohin er blickt, Denunziationslust, Mordgier, Grausamkeit - eine Hieronymus-Bosch-artige Welt.
Es ist eine Schande zu leben. Es ist eine Schande, unter der Sonne zu sein. Es ist eine Schande zu leben.
Trost bei Klassikern
Die beiden Tagebuch-Bände, die Piper nun vorgelegt hat, umfassen die Jahre 1943 bis 1945. Neben den apokalyptischen Zeitläuften war es vor allem die Unzufriedenheit mit seiner bisherigen literarischen Produktion, die Marai zum Tagebuchschreiben gebracht hat.
"Wie viel Überflüssiges ich geschrieben habe, als ich noch eine Schreibmaschine besaß, nur damit wir uns die Wohnung und den Lebensstil leisten konnten, der zu den zwei Dienstboten passte", notiert er Anfang 1945, als die Rote Armee längst zur Belagerung Budapests angesetzt hat.
Während Europa in Blut und Terror versinkt, sucht Marai Trost und Zuflucht bei seinen geliebten Klassikern. In der Lektüre Shakespeares, Goethes, Prousts, Petöfis und vor allem Marc Aurels hofft er etwas wie Halt zu finden.
Die Nachwelt im Blick
So persönlich diese Tagebücher auch sein mögen, Sandor Marai hat von Anfang an die Nachwelt im Blick gehabt beim Schreiben. Er hat seine Tagebuch-Manuskripte fein säuberlich auf der Schreibmaschine getippt und die immer voluminöser werdenden Konvolute durch alle Gefährdungen des Exils ab 1948 hindurchgerettet.
Auch nach der Befreiung Ungarns durch die Rote Armee wird Marai des Lebens in seiner Heimat nicht mehr froh. Die Angriffe auf ihn häufen sich. Márton Horváth, einer der Chefideologen der ungarischen KP, greift den einstmals gefeierten Schriftsteller als bourgeoisen Décadent an. Horváth schreibt über Marai: "Seine Worte und Sätze sind schön wie grün und golden schimmernde Fliegen, die sich auf Leichen niederlassen."
Ein "bürgerlicher Schriftsteller"
Marai versteht die Zeichen der Zeit. Er beginnt über den Gang ins Exil nachzudenken.
Ich bin ein bürgerlicher Schriftsteller. Das stimmt. Ich wurde in eine bürgerliche Familie hineingeboren, genoss eine bürgerliche Bildung. Aber das europäische Bürgertum hat der Menschheit sehr viel gegeben. Geht diese Schicht unter, will ich mit ihr untergehen.
Marai geht nicht unter. Marai geht. Im September 1948 verlässt er zusammen mit seiner Frau die Heimat in Richtung Italien und später in die USA, um nie wieder nach Ungarn zurückzukehren. Aber davon wird erst in späteren Ausgaben der monumentalen Tagebuch-Edition die Rede sein.
Kulturpessimistischer Tonfall
Wie in seinen Romanen dominiert auch in Marais Tagebüchern - hier vielleicht noch mehr als dort - ein entschieden kulturpessimistischer Tonfall, eine Mischung aus stoizistischer Desillusionierung und der Einsicht in die profunde Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz.
Im innersten Bewusstsein aller Lebewesen wohnt die Angst. (...) Leben bedeutet, sich der wimmernden Angst eines zwischen den hoffnungslosen Polarsternen von Geburt und Tod sinnlos zappelnden Lebewesens bewusst zu werden. Was bleibt einem anderes übrig? Es gibt keinen Ausweg.
Insgesamt umspannen Sandor Marais Tagebücher, die der Piper-Verlag nun peu a peu herausgeben wird, fast ein halbes Jahrhundert, nämlich die Jahre von 1943 bis 1989. "Sandor Marais Tagebücher", so schreibt der ungarische Literaturkritiker László F. Földényi in seinem Vorwort, "sind eine herausragende Schöpfung nicht nur der ungarischen, sondern der europäischen Literatur." Dem ist nichts, aber auch gar nichts hinzuzufügen.
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Sandor Marai, "Literat und Europäer - Tagebücher 1", aus dem Ungarischen übersetzt von Akos Doma, Piper-Verlag
Sandor Marai, "Unzeitgemäße Gedanken - Tagebücher 2", aus dem Ungarischen übersetzt von Akos Doma, Piper-Verlag