"Alter Mann mit weißen Haaren"

Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt

Der deutsche Kanzler der 1970er Jahre erlebt dieser Tage eine Renaissance, nimmt er sich doch kein Blatt vor den Mund. Nun erhältlich: die Interviews in Zigarettenlänge, die "Zeit"-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo mit Helmut Schmidt geführt hat.

"Ich habe oft mit ihm darüber gesprochen: Warum sind Sie so beliebt?", erzählt Giovanni di Lorenzo. "In einem Interview, das wir gerade geführt haben, hat er gesagt: Ich fürchte, die Erklärung ist kein Kompliment für die herrschende politische Klasse. Je mehr Sehnsucht entstehen kann nach Autorität, nach Menschen, die glaubwürdig und verlässlich sind, desto mehr hängen die Leute offenbar an den Auskünften eines - wie er es selber von sich sagt - alten Mannes mit weißen Haaren."

Giovanni di Lorenzo, der seit eineinhalb Jahren mit Helmut Schmidt kurze und pointierte Interviews für das "Zeit-Magazin" führt, hat darin querbeet alles thematisiert: Gedichte von Storm, Ratschläge des römischen Kaisers Marc Aurel, die Pension, Bach und Schmidts Körperhygiene. Da ist es fast zwangsläufig, dass auch mal das Thema Schmidt-Witze aufs Tapet kam. Überraschung: Es gibt sie. Hier einer davon:

Helmut Schmidt kommt in die Hölle, und als Luzifer ihn sieht, fühlt er sich so geehrt, dass er sagt: "Lieber Helmut Schmidt, jetzt haben Sie einen Wunsch frei, von mir aus können Sie sogar in den Himmel." Schmidt entgegnet: "Haben Sie mal Feuer?" Der Witz ist kein Kracher. Aber er zeigt alles, was den Helden auszeichnet: Coolness, Unerschrockenheit, Kultstatus, Chuzpe und Sucht.

Vieldeutiges Symbol Rauchen

Helmut Schmidt raucht, seit er 17 ist und will seinem Chefredakteur tatsächlich weismachen: "Wenn ich es für notwendig hielte, könnte ich morgen aufhören." Der daraufhin: "Das sagen alle Süchtigen." In diesem Moment hält der Leser den Atem an, fürchtet er doch eine saftige Retourkutsche. Aber nichts geschieht. Schmidt, der für Journalisten meist eine Art "kokettierender Verachtung" übrig hat, wie es Kurt Kister von der "Süddeutschen Zeitung" einmal beschrieb, bleibt liebenswürdig und antwortet: "Ich könnte das, aber es ist ja nicht notwendig. Weder gesundheitlich, noch seelisch, noch philosophisch." Seine Gefäße seien inzwischen hinreichend auszementiert, sagt der 90-Jährige, der nach mehreren Infarkten fünf Bypässe und einen Herzschrittmacher in der Brust trägt.

Schmidts Raucherei ist ein vieldeutiges Symbol. Es sagt uns: Hier hat einer keine Angst um sich. Denn es gibt Wichtigeres: Die Aufgabe! Weiter: Hier steht einer über den Moden! Und genießt es womöglich auch, die Mehrheitsmeinung herauszufordern, indem er immer und überall mit einer brennenden Zigarette erscheint. Konsens war für ihn noch nie ein Ziel an sich!

"Helmut Schmidt hat ein Kapital, das er nie angetastet hat, geschweige denn verbraucht hat: Er ist glaubwürdig", sagt Giovanni di Lorenzo.

"Erster Angestellter des Staates"

Der deutsche SPD-Kanzler der 1970er Jahre, der mit der ersten Ölkrise ebenso zu kämpfen hatte wie mit den Linksterroristen der RAF, der den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas voraussah und die Einführung des Euro vorbereitete, hat sich in diesem Amt als - wie er sagte - "erster Angestellter des Staates" verstanden.

Trotz aller Bescheidenheit, aller Managerqualitäten, seiner geschliffenen Rhetorik, war er während seiner acht Jahre als Kanzler nie so beliebt wie sein sozialdemokratischer Vorgänger Willy Brandt. Schmidt galt als Macher, Brandt als Visionär. "Wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen" - dieser Ausspruch Schmidts wurde 1980 als ziemliche Bosheit verstanden und war wohl auch so gemeint.

Keine unbequeme Wahrheit verschwiegen

"Ich glaube, dass ich immer versucht habe, das zu sagen, was ich im Augenblick dachte, das zutraf und wahr gewesen ist. Auch unbequeme Wahrheiten habe ich nicht verschwiegen. Ob das zu der von Ihnen so genannten Popularität beigetragen hat, mag so sein. Vielleicht nachträglich." Helmut Schmidt in einem NDR-Radiointerview aus dem Jahre 2003.

Dieses Stundengespräch, das im Rahmen des grassierenden Schmidt-Booms in Deutschland kürzlich als Hörbuch auf den Markt kam, zeigt den ältesten lebenden ehemaligen Bundeskanzler so wie man ihn bei offiziösen Interviews immer erlebt hat: streng, eloquent und jeder Verbrüderung mit den Journalisten abhold.

Anders die kurzen Interviews mit Giovanni di Lorenzo: Sie zeigen Schmidt als lockeren, humorvollen Menschen. Da ist keine Spur von "kokettierender Verachtung" gegenüber dem 40 Jahre jüngeren Chefredakteur. Man frotzelt sich gelegentlich zärtlich. Zum Beispiel wenn Schmidt auf di Lorenzos Frage: "Jetzt sind Sie schon fast 25 Jahre bei der 'Zeit'. Sind Sie inzwischen wenigstens ein bisschen Journalist?" antwortet: "Ich fürchte nicht, und wissen Sie warum? Weil ich es mir einfach nicht abgewöhnen kann, gründlich zu arbeiten."

Freitags nach der Redaktionssitzung

Die Zigaretteninterviews fanden meist freitags nach einer Redaktionskonferenz im stets gut gelüfteten Zimmer des Chefredakteurs statt. Schmidt war von di Lorenzo vorab über das Thema informiert worden, konnte sich also darauf vorbereiten. Vor Drucklegung bekam Schmidt den Text zur Autorisierung.

"Jedes Gespräch sollte im Idealfall eine Mischung sein aus Persönlichem, Biografischem, es sollte ein geschichtlicher Rückblick möglich sein", erinnert sich di Lorenzo. "Und dann natürlich auch politisches Streiflicht, das ist immer dabei bei Helmut Schmidt. Das geht gar nicht anders."

Niemand mehr da

Helmut Schmidt ist der Berühmteste aus der Riege älterer Herren, die gerade eine unheimliche Renaissance erleben. Unheimlich deshalb, weil viele Menschen mit Blick auf deren Beispiel ermessen können, wie sehr, wie schnell sich die Welt in den letzten 40 Jahren verändert hat. Zu Schmidts politisch aktiver Zeit galten andere Maßstäbe, andere Persönlichkeiten waren am Ruder. Vielleicht lassen sie sich ganz zutreffend mit der vom Soziologen David Riesman gefundenen Kategorie "innengeleitet" bezeichnen. Wenig auf Anerkennung angewiesen, ordnen sie alles dem Erreichen selbst gesteckter Ziele unter.

Heute dominiert der außengeleitete Typ, auch in der Politik: Ihn zeichnet große Flexibilität aus. Teamorientierung. Pragmatismus. So einem wie Helmut Schmidt muss das verdächtig vorkommen. Auf einem Hamburger Ärztetag soll er kürzlich gesagt haben, seit zehn Jahren habe er vor der Finanzkrise gewarnt, und als sie dann kam, hätte Europa reagieren müssen. Konnte es aber nicht, weil niemand da war.

Niemand mehr da. So sieht es aus Helmut Schmidts Perspektive aus.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Giovanni di Lorenzo, "Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt", Kiepenheuer & Witsch Verlag

Link
Kiepenheuer & Witsch - Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt