1984 - 25 Jahre danach

Das Jahr, das es nicht gab

George Orwell konnte sich nur eine Schreckensherrschaft vorstellen, in der Armut und Mangel herrschen. Dass auch ein Leben in Saus und Braus Individualität abtöten kann, das musste dem Asketen Orwell fremd sein. So kam und ging das Jahr 1984.

"Mir ist aufgefallen, dass die finsteren Visionen von Romanen wie '1984' und 'Schöne neue Welt' allmählich Wirklichkeit werden", schrieb der sonst eigentlich sehr vergnüglich zu lesende - Kolumnist Harald Martenstein Anfang März 2009 in der "Zeit". 2009!

25 Jahre nach dem ominösen Jahr 1984 überfielen den ironisch hedonistischen Raunzer Martenstein auf einmal finstere Visionen. Spät dran. Denn schon in den Jahrzehnten vor 1984 hatten Generationen von Lehrerinnen und Lehrer, sowie Schülerinnen und Schüler gebannt auf diese Jahreszahl gestarrt.

Heraufdämmernder Überwachungsstaat

Viele Lehrerinnen und Lehrer hatten das Buch des undogmatischen Linken George Orwell als Schullektüre verordnet, um im Kalten Krieg die Schrecken des Kommunismus zu illustrieren. Manche Schülerinnen und Schüler fanden eher den im Buch beschriebenen Überwachungsstaat heraufdämmern, vor allem, als im Gefolge des RAF-Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland unter dem Schlagwort der "inneren Sicherheit" die Bespitzelung der Abweichlerinnen und Abweichler neue Qualitäten erfuhr.

Hans-Magnus Enzensberger nannte damals im Kursbuch seinen Staat höhnisch "eine Insel Felsenburg für Sozialautomaten, gelenkt und gesteuert von den allwissenden Hohepriestern des Bundeskriminalamts".

In die Zukunft verlagertes 1948

Wohlgemerkt: Das war Jahre vor dem real existierenden 1984. Und weder der Zusammenbruch der osteuropäischen Regime war damals vorauszusehen, noch die rasante Entwicklung der Informationstechnologie. 1984 existierten wohl in Ost und West mehr oder weniger gut funktionierende Geheimdienste, die Daten ihrer Bürgerinnen und Bürger sammelten, aber das alles gab es nicht: Mobiltelefone, persönliche Computer, Satellitennavigation, Internet, E-Mail, Google, MySpace, Twitter, Facebook, Blogs, die weltweite beziehungsweise ämter- und firmenüberschreitende Verknüpfung digitaler Dateien und persönlicher Daten.

Das Jahr 1984 entsprach mitnichten dem Szenario, das Orwell vorgezeichnet hatte, denn dem englischen Journalisten und Schriftsteller, der im Spanischen Bürgerkrieg auf Seite der Linken gekämpft hatte, war es wohl gar nicht um eine Utopie gegangen, sondern um eine literarisch in die Zukunft verlagerte dramatische Kritik am Stalinismus der ausgehenden 1940er Jahre.

Alles, was Orwell in "1984" beschrieb, war schon 1948 da, denn die Zukunft "ist kein von irgendeinem Propheten vorgezeichnetes Szenario, das wir nur mehr zu verwirklichen haben", wie der französische Philosoph Roger Garaudy schrieb: "Man kann die Zukunft nicht entdecken, wie Kolumbus Amerika entdeckt hat. Die Zukunft muss man erfinden."

In der globalen Vernetzung

Jetzt, zum 25-Jahr-Jubiläum von "1984", ist die Zukunft erfunden. Zumindest jene Zukunft, die ab sofort Vergangenheit ist. Und Harald Martenstein hat "finstere Visionen", weil "wir alle demnächst wissen werden, wo unsere Freunde sich gerade aufhalten. Das läuft übers Handy, wir können pausenlos senden, empfangen und am Leben anderer teilhaben."

Statt sich aus der globalen Vernetzung möglichst herauszuhalten, klinken sich immer mehr ein: Sie sammeln Kundenkarten von Supermärkten und Bekleidungsfirmen, womit ihr Konsumverhalten dokumentiert wird, sie schreiben ihre Meinungen in Blogs "und halten sich damit lobenswerterweise vom Journalismus fern" (Zitat Armin Thurnher, Chefredakteur der Zeitschrift "Falter"), sie werden Twitter- oder Facebook-"Freunde", die alle Welt wissen lassen, dass sie nächste Woche nach Thailand reisen werden, gerade ihre Katze Mitzi kraulen oder ihrem Freund Klaus-Dieter den Laufpass gegeben haben.

Facebook in 50 Jahren

Auch dazu existiert mittlerweile eine Utopie, natürlich im Internet: "Facebook in 50 Jahren" zeigt die fiktive Seite des Forums "pensionbook", deren Mitglieder sich über Stricken, Treppenlifte und künstliche Darmausgänge unterhalten, uns mitteilen, dass sie mit moderner Musik nichts mehr anfangen können ("Wo bleibt die Melodie?") und unter "Anstehende Ereignisse" ankündigen, dass alle morgen live dabei zuschauen können, wie Corrie allein zu Hause herumsitzt und eine Tasse Earl-Grey-Tea trinkt.

Das fiktive Werbebanner des fiktiven Forums stammt von den Karamellzuckerln "Werthers Echte", die es also auch in 50 Jahren noch geben wird, was uns doch mit einer gewissen Beruhigung in die Zukunft sehen lässt.

1984 war Schluss

Sowohl jene, die täglich "twittern" oder "facebooken" und sich keinen Deut darum scheren, ob sie dabei von einem Großen Bruder beobachtet werden, als auch jene, die sich mittels Senioren-Utopie darüber lustig machen - sie alle wurden in der Schule nicht mehr mit Orwells "1984" behelligt. 1984 war mit "1984" Schluss. Der Mythos war verpufft, die Chiffre hatte ausgedient, das magische Datum war keine Bedrohung mehr.

Schon 1982 hatte Anthony Burgess, Autor von "A Clockwork Orange", ein Buch mit dem Titel "1985" geschrieben, an dessen Beginn er Orwells Qualitäten als Utopisten schmälert, aber dessen Verdienste um sozialkritische Reportagen hervorhebt. Er lässt da einen älteren Herren sagen:

Im Prinzip ist Orwells Buch ein komisches Buch. Orwell wäre überzeugender, wenn er gekochten Kohl und zerschlissene Teppiche beschreibt, anstatt totalitärer Systeme. Arbeiterküche, Fish and Chips, der neueste Mord in den Weltnachrichten, solche Dinge lagen ihm mehr. Aber ich möchte eindeutig feststellen, dass Orwell nicht die Zukunft voraussagte. Romane werden mit Fakten und Verstand geschrieben, nicht mit großen Ideen.

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Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 9. Mai 2009, 17:05 Uhr

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Zeit online - Martenstein