Der Sound der Zwölf-Millionen-Metropole

Istanbul hören

Was ist der Sound dieser Stadt, in der zehn, vielleicht auch schon 15 oder sogar 20 Millionen Menschen leben? Ist es der vielstimmige Klangteppich in der Flaniermeile Istiklal Caddesi oder das Krähen eines Hahnes im Stadtteil Cihangir?

Dass plötzlich ein Hahn krähte, war dann schon überraschend. Es war zeitig in der Früh, als er mir zum ersten Mal aufgefallen war, und er krähte dann den ganzen Tag über immer wieder. Anfangs kannte ich nur die Richtung, aus der sein Krähen kam, dann machte ich mich mitten im zentralen Istanbuler Stadtviertel Cihangir auf die Suche nach einem Hahn.

Hier, auf der Anhöhe zwischen dem Bosporus und dem Taksim-Platz, wohnen die obere Mittelschicht und jene Intellektuellen, denen das mondäne Moda am asiatischen Ufer zu seelenlos und die Villenviertel auf den Hügeln entlang des Bosporus zu wenig urban sind. Hier gibt es italienische Delikatessengeschäfte, kleine Buchläden und Straßencafés, die genauso gut auch in einer Seitengasse des Pariser Quartier Latin liegen könnten. Hier wohnen Architekten und Literatur-Nobelpreisträger, und hier krähte also ein Hahn.

Die Rufe der Muezzins

Als ich die steile Straße hinunterging und in eine schmale Sackgasse einbog, in der es stark nach Katzenpisse roch, kam ich zu einer staubigen Baulücke. Viel Bauschutt lag umher, ein Feigenbaum krallte sich erfolgreich an den Steinen fest, und in einer Ecke hatte sich ein anatolischer Zuwanderer aus Steinen eine provisorische Unterkunft errichtet. Und zwischen der Baracke und dem Feigenbaum, da war der Hahn zu Hause.

Sein Krähen gehörte fortan zu den Geräuschen, die ich vom Balkon aus hören konnte, genauso wie die schrillen Schreie der Möwen, die die beiden ungleichen Minarette der Cihangir-Moschee umsegelten, das kurze Tuten der Bosporus-Fähren, die andauernd zwischen dem kleinasiatischen und dem europäischen Ufer hin- und herfuhren, das Kreischen und Fauchen der streunenden Katzen, die Revierkämpfe ausfochten, und das beständige dumpfe Brausen des Stadtverkehrs, das nur in den späten Nachtstunden etwas nachließ. Dann konnte man auch die Rufe der Muezzine klarer hören, am deutlichsten bei ihrem ersten Gebet in der Morgendämmerung.

Die Gebetszeiten richten sich ja nach dem Sonnenstand, und so wabern am frühen Morgen die Rufe vom asiatischen Ufer herüber, bevor einige Minuten später weiter westlich die Muezzine von Besiktas und der historischen Altstadt mit recht unterschiedlicher musikalischer Qualität in den Klangteppich einstimmen.

Das Gebimmel der Wasserverkäufer

Ganz andere Rufe kann man dann später am Vormittag hören, wenn die Gemüsehändler ihre Handkarren durch die engen Gassen ziehen und Feigen und Wassermelonen anpreisen. Die Hausfrauen antworten ihnen aus den oberen Stockwerken, erkundigen sich nach dem Preis, legen das Geld in einen Einkaufskorb und lassen diesen an einer Schnur auf die Straße herab, um ihn dann vollgefüllt wieder hochzuziehen. Ein bequemes System, das das Stiegensteigen erspart, aber auch verhindert, dass sich die jungen Haushaltshilfen im Geschäft verplaudern oder unerwünschte Begegnungen auf der Straße haben.

An einem fixen Wochentag kommt der Wasserverkäufer mit Gebimmel und den 20-Liter-Trinkwasserkanistern ins Viertel, und der Lieferwagen der Firma Aygaz kündigt per weithin vernehmbarer Frauenstimme vom Tonband an, dass man von seiner Ladefläche Gaskartuschen für die Gasherde erstehen kann.

Nachmittags erklingen dann die Rufe der Entsorger, die Metallgegenstände, Pappe oder Plastik einsammeln und all das einem geheimnisvollen Recycling-System zuführen, zu dem auch die Müllmenschen beitragen, die nachts die Abfalleimer in einer streng geregelten Reihenfolge durchwühlen: zuerst die Altpapiersammler, dann die Plastik- und Metallspezialisten, und erst dann kommt die städtische Müllabfuhr und nimmt den Rest mit.

Geschäftigkeit und Beschaulichkeit

Über den Häusern der Stadt liegt ein dauernder Lärmpegel. Das Rumpeln der Busse, das Bimmeln der modernen Straßenbahnen, das Hupen der entnervten Autofahrer im Stau, der Gesang der Straßenmusikanten, die Rufe der verschiedensten Händler: Sesamringe, Lotterielose, kalte Getränke, Batterien, Bustickets.

Bei Regen erscheinen an den Anlegestellen der Fähren blitzschnell Schirmverkäufer, im Winter sitzen in den Unterführungen Männer, die Papiertaschentücher oder Wärmeflaschen anbieten, im Sommer dann kalte Getränke oder Sonnenhüte. Ein schnurrbärtiger Kurde schleppt einen riesigen Plastiksack auf eine Fähre und breitet die darin befindlichen T-Shirts vor den Fahrgästen aus. Überhaupt sind die Schiffe ein beliebter Ort für alle möglichen Verkäufer: Hier können die potenziellen Käuferinnen und Käufer nicht wie auf der Straße einfach vorbeigehen, hier sind sie den Verkaufsargumenten wehrlos ausgeliefert.

Trotz aller Hektik aber, trotz der Geschäftigkeit und des Lärms ist Istanbul auch eine gelassene Stadt. Immer wieder findet sich gleich neben den geräuschvollsten Orten ein Platz der Ruhe, der Beschaulichkeit: ein Teehaus, ein kleines Restaurant, ein plätschernder Springbrunnen, ein Park, oder auch nur eine betonierte Geländestufe inmitten des Häusermeers, auf die sich die Nachbarn setzen und miteinander reden.

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Hör-Tipp
Hörbilder, Samstag, 23. Jänner 2010, 9:05 Uhr