Fantastische Geschichten

Nostalgia

Mircea Cartarescu hat seinen Bulgakow, seinen Borges, seinen E. T. A. Hoffmann gelesen. In seinem Erzählband "Nostalgia" erweist sich Rumäniens bedeutendster Romancier als mit allen Wassern der schwarzen Romantik gewaschener Postmodernist.

Fünf Erzählungen umfasst "Nostalgia" - drei lange, sie haben Cartarescus Kindheits- und Jugenderlebnisse im Bukarest der 1960er und 70er Jahre zum Ausgangspunkt, und zwei kürzere, die die inneren Erzählungen in der Art eines Flügelaltars umrahmen.

Erinnerungen an die Zeit der Bubenbanden

In den drei zentralen Geschichten beschäftigt sich Cartarescu auf vielfach gebrochene, virtuos verschachtelte, mit Traum- und Alptraumsequenzen aller Art angereicherte Weise mit der bröckelnden Pracht des Ceaucescu'schen Bukarest, mit den unwirtlichen Sozialbauten an der Peripherie der rumänischen Metropole, in denen der heute 52-Jährige - eine Art Edgar Allen Poe des Plattenbaus - seine Kindheit und Jugend verbracht hat.

In der Erzählung "Mendebilus" etwa beschwört Cartarescu die Zeit der Bubenbanden noch einmal herauf, die in seiner Kindheit das morastige Gelände hinter den großen Wohnblocks unsicher gemacht haben. Mit den präpubertären Gehässigkeiten ist es vorbei, als ein ätherisches Bürschchen namens Mendebilus im Plattenbau auftaucht, Mendebilus verzaubert die jugendlichen Sozialbau-Rowdies mit versponnenen Geschichten metaphyischer Art.

"Die Menschen sind nicht nur von einer Art", erklärte Mendebilus. "Es gibt vier Arten von Menschen: die Ungeborenen, die Lebenden, die Gestorbenen und jene, die weder geboren noch am Leben, noch auch gestorben sind. Das sind die Sterne."

Auto mit Hupe

Immer wieder kippen Cartarescus Erzählungen ins Irreale hinüber. Die Übergänge zwischen Realismus und Phantastik bewältigt der Dichter mit staunenswerter Lässigkeit. Im letzten Text des Bandes etwa erzählt Cartarescu die Geschichte des Bukarester Architekten Emil Popescu.

Die Geschichte beginnt denkbar harmlos: Popescu erwirbt zusammen mit seiner Frau nach fünf sparsamen Jahren einen "Dacia 1300", ein Mittelklasseauto rumänischer Produktion. Nach einiger Zeit entwickelt der Architekt eine bizarre Leidenschaft für Autohupen. Zunächst besorgt sich Popescu ein italienisches Fabrikat. Alleinstellungsmerkmal der Hupe: Sie tutet die ersten Takte des Triumphmarschs aus "Aida".

Rasch wird Popescu des Verdi-Motivs überdrüssig, er besorgt sich neue Hupen mit immer neuen melodischen Möglichkeiten: "Yankee Doodle", "Marseillaise", "God Save the Queen". Nach und steigert sich Cartarescus Architekt in eine Art Autohupenwahn hinein. Er lässt in den vorm Wohnblock geparkten Dacia eine elektronische Orgel einbauen, was das Auto fahruntüchtig macht, aber das ist Popescu gleichgültig, denn längst geht es ihm nur mehr ums Hupen.

Das größte Hupkonzert in Zeit und Raum

Immer mehr Zeit verbringt Cartarescus Protagonist mit seinen Hupübungen vorm Haus, bis ein Musikwissenschaftler eines Tages feststellt, dass Architekt Popescu ohne es zu wissen die zentralen Werke der abendländischen Musiktradition Note für Note neu erfindet, von der orphischen Hymnik des antiken Griechenland über das Adagio aus Bachs E-Dur-Konzert bis hin zu Alban Berg und Pink Floyd. Popescu wird zum Star, seine Hupkonzerte werden weltweit in Funk und Fernsehen übertragen. Doch damit nicht genug, Popescu wird immer fetter und voluminöser und dehnt sich immer mehr aus in Zeit und Raum.

Im Auto lag der Architekt. Sein Körper, der mittlerweile mindestens vierhundert Kilo wiegen musste, hatte den Fonds des Autos ausgefüllt wie die Schnecke ihr Haus, ja er quoll bereits ein bisschen durch die Fenster. Er war unförmig, nackt und weiß schimmernd, denn die Kleider, die er anhatte, waren längst gerissen.

Popescu spielt und spielt auf seiner Autoorgel, bis sein Körper sich über den Globus und schließlich über das ganze Universum ausdehnt.

Das Weltall alterte, schrumpfte zusammen wie eine Feige. Der Stoff, aus dem es bestand, zerfiel schimmelpilzartig. Sogar die interstellare Materie, einst geschmeidig, dunstig, voller Methanwolken und Goldstaubfäden, war starr und rau geworden. Durch sie bahnte sich jetzt der Architekt seinen Weg, ein sich ausbreitender Nebelhaufen, der ganze Sternbilder verschlang.

In der ersten Liga

Man hört: Von Minderwertigkeitskomplexen wird Cartarescu ganz und gar nicht geplagt. Er scheut auch den großen, den kosmologischen Zugriff auf die Phänomene nicht. Auch wenn Cartarescus Einbildungskraft bisweilen allzu ungezügelt ins Kraut schießt: Sein Prosadebüt - im rumänischen Original bereits 1993 erschienen - braucht den Vergleich mit den Klassikern der phantastischen Literatur keine Sekunde lang zu scheuen. Europa heute hat nicht viele Autoren, die in einer Liga mit Kafka, Borges, Cortázar spielen. Mircea Cartarescu ist einer von ihnen.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Mircea Cartarescu, "Nostalgia", aus dem Rumänischen übersetzt von Gerhard Csejka, Suhrkamp-Verlag

Link
Suhrkamp - Mircea Cartarescu