Schlingensiefs Tagebuch seiner Krebserkrankung

So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!

Als bei dem Theater-Provokateur Christoph Schlingensief Krebs festgestellt wurde, war es vorbei mit der Selbstinszenierung. Oder doch nicht? Nach überstandener Krankheit gibt es nun ein Tagebuch von Schlingensiefs Auseinandersetzung mit dem Krebs.

Anfang 2008 wurde bei Christoph Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert, im Verlauf der Krankheit musste ihm der linke Lungenflügel entfernt werden. Ende 2008 wurden auch in der verbliebenen rechten Lunge neu entstandene Metastasen festgestellt. Über dieses existenzielle Erlebnis hat Schlingensief sein "Tagebuch einer Krebserkrankung" verfasst.

Hautnah

Man kennt ja die Krankenberichte Prominenter, sei es aus der Regenbogenpresse, sei es als vermeintlicher Bestseller, geschrieben von einem Ghostwriter. Und genau deswegen geht man bei Schlingensief mit gemischten Gefühlen an die Lektüre. Will er seine schwere Krankheit als Wort-Performance inszenieren?

Die ersten Seiten des Buches legen vielleicht noch eine solche Deutung nahe, aber dann bekommt man hautnah mit, wie sich in Schlingensief eine Wandlung vollzieht. "Hautnah" auch deswegen, weil der Autor vor der Niederschrift seine Gedanken und Gefühlsäußerungen direkt auf Band gesprochen hat. Am Anfang der Krankheit besteht noch die Möglichkeit, dass der Tumor gutmütig ist. Dann kommt die Diagnose "Krebs", aber es könnte sich um ein kleines Karzinom handeln. In dieser Zeit findet Schlingensief zum Gebet zurück, glaubt sich von Schutzengeln umgeben. Zuletzt folgt der Faustschlag ins Gesicht: Ein Lungenflügel muss sofort entfernt werden.

Und das, lieber Gott, ist die größte Enttäuschung. Dass du ein Glückskind einfach so zertrittst, du bist jedenfalls gerade dabei, das zu tun. Und all die anderen Leute, die an dich glauben, zertrittst du auch, zum Beispiel die, die nach Lourdes laufen und dennoch nicht geheilt werden.

Pure Ignoranz ist das. Gott sagt einfach, was du machst, interessiert mich nicht, ist mir egal. Ich lege mich über dich, ich fresse mich in dich rein, ich missbrauche dich für meine Sachen, ich bringe dich einfach um die Ecke. Ist ihm völlig egal, wer ich bin, was ich mache.

Ohne Pathos

Christoph Schlingensiefs Sprache ist salopp, aber nie oberflächlich, salopp, aber nie wehleidig, salopp, aber nie gefühlsduselig mitteilsam. Der Autor weiß, in jedem Satz geht es um Leben und Tod - und das will er ohne Pathos sagen. In der eben zitierten Passage geht es um Gott und Schlingensief. Gott inszeniert an dem Ego-Performance-Künstler Schlingensief vorbei, ja, er zertritt anscheinend das "Glückskind", das sich so seiner Schutzengel beraubt sieht. Aber das ist eben nur eine Wegstation in der Passion des Autors.

Schlingensief lernt zu erkennen, dass nicht nur der Schwerkranke leidet, sondern all die, die ihn umgeben. Das fängt beim behandelnden Arzt an, zu dem Schlingensief ein persönliches Verhältnis aufbaut, das betrifft seine Freunde, die viel Zeit für ihn opfern, und das trifft vor allem auf Schlingensiefs Lebensgefährtin Aino Laberenz zu, die neben den Ängsten ihres Freundes auch noch die eigenen zu bewältigen hat.

Nicht der Leidende ist der, der eine Prüfung macht, sondern der, der auf den Leidenden trifft. (...) Aino ist meine Frau, und ich erfahre hier nicht alleine eine Prüfung, sondern Aino erlebt gerade etwas, was sie reifer, erwachsener macht, vielleicht auch offener für religiöse oder spirituelle Momente.

Stets präsente Angst

Christoph Schlingensiefs Buch erzählt unpathetisch von einer Leidenspassion, bei der die Transzendenz Gottes einmal mehr, einmal weniger stark präsent ist. Stets präsent ist die Angst, dass man es nicht schaffen wird. Sehr präsent sind auch Leute, denen Schlingensief nach der Operation begegnet und die nicht wissen, wie man mit einem solchen Kranken umgehen soll. Sie flüchten sich in Betroffenheitsgesten oder Durchhalteparolen.

Diese Leute haben doch auch ihre Einschnitte, ihre Wunden. Warum zeigen wir sie uns nicht gegenseitig? Beuys sagt: "Zeig mir deine Wunde. Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt. Wer sie verbirgt, wird nicht geheilt."

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Christoph Schlingensief, "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung", Kiepenheuer & Witsch