Durch Krisen gestärkt
"Singen ist besser als Sex"
Nicht nur Ritter vom hohen C - Neil Shicoff durchleuchtet die psychischen Abgründe seiner Opernfiguren und sprengt damit alle Grenzen. Am Dienstag feiert Shicoff 60. Geburtstag. Über seine Lieblingsbeschäftigung hat er pointierte Ansichten.
8. April 2017, 21:58
Neil Shicoff in "Les Contes D'Hoffmann"
"Singen ist besser als Sex!" Mit diesem Satz hat Neil Shicoff einmal bei einem Publikumsgespräch für Aufsehen gesorgt. Ein Zitat, das diesen Künstler sehr treffend charakterisiert. Als schwierig hat man ihn oft bezeichnet, übersensibel, depressiv - Adjektive, mit denen er auch selbst immer wieder kokettiert.
"Ich habe viele dunkle Seiten und tiefe Abgründe", gestand er einst im Interview mit der "Bühne". "Wenn ich allein bin, nachts nicht schlafen kann, spüre ich, dass Figuren wie Hoffmann oder Peter Grimes ein Teil meiner eigenen Persönlichkeit sind. Die Bühne ist für mich eine Art Ventil, wo ich all das auslebe, was mir im realen Leben gefährlich werden könnte und wo ich viel über mich selbst erfahre."
Vom Egomanen zum Familienmenschen
Schonungslos offen berichtet Neil Shicoff in diesem Interview über seine Ängste und Sorgen, über seine tiefe Verbundenheit mit seinem früh verstorbenen Vater, seinen nervenzermürbenden Scheidungsprozess, den großen Halt, den er bei seiner zweiten Ehefrau, der Sopranistin Dawn Kotoski, gefunden hat und die fürsorgliche Liebe zu seinen Kindern.
"Früher war ich egozentrisch, arrogant und habe irrigerweise gedacht, dass das, was ich am Theater mache, die wichtigste Sache der Welt sei."
Doch nicht Staatsoperndirektor
Seit diesem Interview ist inzwischen mehr als ein Jahrzehnt vergangen, Shicoffs neue Weltsicht hat sich in dieser Zeit vertieft und ihm offenbar auch über die Enttäuschung hinweg geholfen, doch nicht neuer Wiener Operndirektor geworden zu sein.
Von der Liebe des hiesigen Publikums getragen, war die Vorstellung, einmal selbst die Geschicke der Staatsoper leiten zu können, bereits zu einer festen Größe in seiner Lebensplanung geworden. Noch dazu, wo mit dem damaligen Bundeskanzler alles ausgemacht schien, bis die zuständige Ministerin im letzten Augenblick einen anderen Kandidaten aus dem Hut zauberte.
Krisen und Rückschläge
Doch Shicoff ist von seiner nun schon fast dreieinhalb Jahrzehnte währenden Karriere durchaus auch Rückschläge gewöhnt. Vor allem die großen Plattenbosse haben ihm zuerst das Blaue vom Himmel versprochen, um ihn dann fallen zu lassen, als sie erkannten, dass dieser hochtalentierte Mann nur wenig Lust verspürte, sich den oft unkünstlerischen Gegebenheiten dieser wenig sensiblen Branche anzupassen, die sich inzwischen selbst weitgehend dezimiert hat.
Shicoff hingegen ist aus jeder Krise gestärkt hervorgegangen und zählt heute fraglos zu den begehrtesten Tenören der Welt - vor allem als Spezialist für Antihelden, für gebrochene Typen, die er wie kaum ein anderer zu gestalten weiß.
Vater als Leitbild
Vor 60 Jahren, am 2. Juni 1949, wurde Neil Shicoff geboren: in Brooklyn, in New York, wo sein Vater ein bekannter Synagogen-Kantor gewesen ist. Sidney Shicoff wurde für den jungen Neil zu seinem größten Vorbild, mit dem er sich bis heute innig verbunden fühlt, auch wenn er viel zu früh gestorben ist und die Weltkarriere seines Sohnes nicht miterleben konnte.
Immerhin aber war er der erste, der ihm richtigen Gesangsunterricht erteilt hat. Nach seinem Tod hat Shicoff dann an der renommierten Juillard School studiert und hatte dort in Jennie Tourel eine prominente Lehrerin. Sie stammte so wie die Familie Shicoffs ebenfalls aus Russland und war für ihre Rossini- und Offenbach-Interpretationen ebenso berühmt wie als geheimnisvolle Muse von Leonard Bernstein.
Start mit Verdi
1975 folgte schließlich Neil Shicoffs offizielles Bühnendebüt. In Cincinatti und unter der Leitung von James Levine ersetzte er den Anfang dieses Jahres verstorbenen MET-Startenor Richard Tucker als Titelheld in Verdis Ernani, 1976 wurde er bereits selbst an die Metropolitan engagiert und das war gleichzeitig der Startschuss für seine internationale Karriere, die ihn bald zu den wichtigsten Opernhäusern und Festivals der Welt führte.
Seinen Wohnsitz hat Neil Shicoff heute in Zürich, dessen Opernhaus er ganz besonders verbunden ist, aber auch die Wiener Staatsoper, an der er 1979 erstmals aufgetreten ist, zählt zu seinen bevorzugten Wirkungsstätten.
Lebensrolle Eleazar
In Wien hat er am 23. Oktober 1999 auch zum ersten Mal den unbeugsamen jüdischen Goldschmied Eleazar in "La Juive" (Die Jüdin) von Jacques Fromenthal Halevy verkörpert, eine Partie, die inzwischen zu seiner großen Lebensrolle geworden ist und mit der er seither in der ganzen Welt wahre Triumphe feiert.
Shicoff ist dabei das Kunststück gelungen, eine ganze Operngattung, nämlich die der Grande Opéra, für unsere Zeit zum Leben zu erwecken und damit in die Fußstapfen von Caruso zu treten, von Leo Slezak und Richard Tucker, um nur drei seiner legendären Vorgänger in dieser hochemotionalen Partie zu erwähnen.
Hör-Tipp
Apropos Oper, Dienstag, 2. Juni 2009, 15:06 Uhr
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Neil Shicoff