Was blieb von der "Solidarität"?
Polen als Vorreiter der Wende
Polen hat durch seinen "Runden Tisch" und die ersten teilweise freien Wahlen 1989 den Weg für den Zusammenbruch des Kommunismus in Europa bereitet. Doch vieles von damals ist heute umstritten. Insbesondere die Person Lech Walesas.
8. April 2017, 21:58
Sie sind mit Steinen und Flaschen bewaffnet und zünden vor dem Warschauer Kulturpalast unter Gejohle eine Puppe des verhassten liberalkonservativen Regierungschefs Donald Tusk an. Dieser verkaufe Polen an die Europäische Union, sagen sie. Als die Polizei eingreift, kommt es zur Schlägerei. Wir schreiben Frühling 2009 in Warschau.
Zwanzig Jahre nach ihrem historischen Sieg über die kommunistische Einparteiendiktatur kämpfen Polens Werftarbeiter heute ums Überleben. Damit die polnische Schiffsindustrie nicht von der asiatischen Billigkonkurrenz vernichtet wird, muss Polen seine Werften hoch subventionieren - denn tatsächlich liegen die Produktionskosten längst über den Verkaufspreisen. Die hohen Subventionszahlungen verstoßen jedoch gegen europäisches Recht, urteilte die EU-Kommission.
Eine Revolution frisst ihre Kinder
Vor zwanzig Jahren, im geschichtsträchtigen Jahr 1989, wurde die Danziger Leninwerft nach einem wochenlangen Besetzungsstreik zur "Wiege der polnischen Demokratiebewegung Solidarnosc" und damit zu einer unantastbaren Festung. Doch nur noch 15 Prozent der Polen sind heute bereit, das Überleben der Werft aus ihren Steuern zu finanzieren.
Dabei sind Polens Werft-und Industriearbeiter die größten Verlierer jenes beispiellosen Transformationsprozesses, der das planwirtschaftlich organisierte kommunistische Land in einen demokratischen Rechtstaat mit freier Marktwirtschaft verwandelte.
Nur die wenigsten ahnten damals freilich, dass der Kampf um würdigere Arbeitsbedingungen und um höhere Löhne, um politisches Mitspracherecht und um freie Medien, den Untergang ihres liebgewonnen Wohlfahrtsstaates einläuten und Millionen Menschen arbeitslos machen würde.
Die Schuld an ihrem Niedergang geben heute viele ausgerechnet jenem Mann, der 1980 als Anführer eines zweiwöchigen Okkupationsstreiks in der Danziger Leninwerft, die kommunistische Führung in die Knie zwang und sich neun Jahre später mit den Kommunisten an den runden Verhandlungstisch setzte, um demokratische Reformen zu besprechen: Lech Walesa.
Wirtschaftskrise und Streiks führen zur Wende
Im Jahr 1988 hatte die soziale Unzufriedenheit in der kommunistischen Volksrepublik Polen einen neuen Höhepunkt erreicht. Galoppierende Inflation, akute Knappheit an Fleisch, Butter, Mehl, Seife, Waschpulver und Toilettenpapier führten zu landesweiten Protesten und Streiks. Die Staatsführung beschloss, mit dem Vorsitzenden der verbotenen Gewerkschaft "Solidarnosc", Lech Walesa, Kontakt aufzunehmen.
Beide Seiten wussten damals schon, dass sie zum Verhandlungserfolg verurteilt waren und so mussten am runden Verhandlungstisch Kompromisse geschlossen werden.
Die Gewerkschaft "Solidarnosc" wurde wieder zugelassen, die Opposition bekam Zugang zu den staatlichen Medien, Wahlen zum Abgeordnetenhaus wurden eingeführt - allerdings nur halbdemokratische, die den Kommunisten einer 65-prozentige Mehrheit sicherten, dafür aber völlig freie Senatswahlen. Nicht zuletzt wurde das Amt eines Staatspräsidenten eingeführt.
Vernichtende Niederlage für die Kommunisten
Der Wahlausgang der halbfreien Parlamentswahlen am 4. Juni 1989 war für die kommunistische Staatsführung niederschmetternd: Die Opposition hatte alle ihr zustehenden 35 Prozent der Parlamentsmandate erobert und 99 Sitze im frei zu besetzenden 100-köpfigen Senat.
Im September wurde in Warschau die erste nichtkommunistisch angeführte Regierung angelobt. An der Spitze des Kabinetts stand der katholische Publizist und Solidarnosc-Berater der ersten Stunde, Tadeusz Mazowiecki.
Im Dezember 1989 wählte das - zu 65 Prozent kommunistisch besetzte - Parlament jedoch Wojciech Jaruzelski zum Staatspräsidenten. Ausgerechnet Jaruzelski, der damals im Dezember 1981 das Kriegsrecht ausgerufen hatte. Für Millionen Polen war diese Entscheidung nur schwer nachvollziehbar.
Vom Bauernsohn zum Präsidenten
Auch für Lech Walesa war gegen die Wahl des Kriegsrechtsgenerals. Obwohl Jaruzelskis Amtszeit erst sechs Jahre später ablief, beschloss der mächtige Gewerkschaftsboss, die Spielregeln zu ändern. Kurze Zeit später bewarb sich Walesa selbst um das Amt des Staatsoberhauptes.
"Es war nicht mein Wunsch, Präsident zu werden", sagt Walesa heute, "aber als alle anderen möglichen Kandidaten abwinkten, hatte ich keine Wahl. Mazowiecki musste bereits viel Schmutzarbeit machen. Er musste ja viele Betriebe schließen. Und das konnte den Massen gar nicht gefallen. Hätten wir den General vor diesem Hintergrund noch weitere fünf Jahre als Präsidenten gehabt, während unser Regierungschef Mazowiecki weiterhin die Verantwortung für unpopuläre Reformen tragen müsste, dann hätten uns die Kommunisten wieder verjagt und das Volk hätte dazu noch Beifall geklatscht."
Am 22. Dezember 1990 hatte Lech Walesa sein Ziel erreicht. Der Bauernsohn, dessen politische Laufbahn im Sommer 1980 an der Danziger Leninwerft begonnen hatte, war Präsident.
Kratzer am Mythos Walesa?
Doch heute distanzieren sich manche seiner damaligen Weggefährten von Walesa. Einer davon ist der inzwischen 79-jährige Jan Olszewski. Auch er hatte damals an den Gesprächen am Runden Tisch teilgenommen.
Heute ist Olszewski Berater des nationalkonservativen Präsidenten Lech Kaczynski: "Mein Vorwurf zielt auf jene, die für den Niedergang der Werft wirklich Verantwortung tragen. Sie hätten nicht zulassen dürfen, dass unsere Werft untergeht. Das sollte für die Post-Solidarnosc-Elite eine Frage der Ehre sein. Auch der ganze Privatisierungsprozess, also die Übernahme von staatlichem Eigentum, das der kommunistische Staat verwaltet hatte, lag im Wesentlichen in den Händen von Geheimdienstagenten, die den Prozess kontrollierten und zu Nutznießern dieses Prozesses wurden."
Jan Olszewski steht für die Ansichten des Chefs der nationalkonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit" Jaroslaw Kaczynski und seines Zwillingsbruders Lech, dem amtierenden Staatspräsidenten. Sie riefen im Wahljahr 2005 eine "moralische Revolution" aus, um Polen von der Erbsünde des faulen Kompromisses des Jahres 1989 rein zu waschen und das politische "Netzwerk" zu zerschlagen, das seit den Abmachungen am "Runden Tisch" im Land regiere.
Nach ihrem Wahlsieg machten sie sich an den Aufbau einer von allen kommunistischen Überresten gesäuberten "vierten Republik Polen". Zum Inbegriff des Feinbildes wurde für die Brüder Kaczynski und ihre rechtsnationale Partei die Ikone der polnischen Demokratiebewegung, Lech Walesa, mit dem sie in den Oppositionstagen und zu Beginn seiner Präsidentschaft eng zusammengearbeitet hatten.
Im Nachhinein Prophet spielen
Sogar Verbindungen zum kommunistischen Geheimdienst werfen sie Walesa vor. Für den Historiker und früheren Bürgerrechtskämpfer Adam Michnik, der jahrelang in kommunistischen Gefängnissen einsaß, sind alle Versuche, die Symbolfigur der polnischen Demokratiebewegung zu diskreditieren zum Scheitern verurteilt.
Auch Michnik saß am runden Tisch und er verteidigt den damals erreichten Kompromiss: "Es wird immer Leute geben, die sagen, dass man diesen bahnbrechenden Erfolg um vieles schneller erreichen hätte können und mit weniger Opfern, dass man überhaupt noch ein Jahr warten hätte sollen, da der Kommunismus ohnehin von allein zusammengebrochen wäre. Und ich sage darauf immer nur, dann sagt mir doch, wann der Kommunismus in Kuba fallen wird. Denn es ist immer sehr einfach, im Nachhinein Prophet zu spielen."
Hör-Tipp
Journal Panorama, Dienstag, 26. Mai 2009
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- Wendejahr 1989