Die schweizerische Form der Demokratie
Souveräne Stimmbürger
Am 17. Mai 2009 war es wieder einmal soweit. Die Schweizer Bürger durften abstimmen. Rund vier Mal im Jahr werden sie zusammengetrommelt, um in eidgenössischen Belangen ein Ja oder ein Nein anzukreuzen. Vier mal im Jahr - das ist Europarekord.
8. April 2017, 21:58
Zürich. Donnerstag, 14. Mai 2009. In drei Tagen werden die Briefwahlkuverts geöffnet und die Urnen geleert. Ich erwarte mir Rummel. Das Volk stimmt ab über die Einführung des biometrischen Reisepasses und die Anerkennung der Komplementärmedizin durch die Krankenkassen. Plakate vielleicht oder Sticker auf Straßenlampen. Weit und breit nichts zu sehen.
Auf der Suche nach der Aufregung
In den Gratiszeitungen, die alle öffentlichen Verkehrsmittel pflastern, kein Wort zu einer Abstimmung. Die prominenteste politische Diskussionssendung "Arena" im Schweizer Fernsehen ist schon vor zwei Wochen über den Bildschirm gegangen. Und dass die "Neue Zürcher Zeitung" dagegen ist, ist sogar für Auslandsbeoabchter ein alter Hut.
In der "Weltwoche" in Form von zwei großen Reportagen ein letztes Aufmucken, auch hier die klare Empfehlung, Nein zu Alternativmedizin und den Mehrkosten für die Krankenversicherung. Aber das war's dann auch.
Am Land, wie zum Beispiel in Affoltern am Albis, wird es nicht mal eine Gemeindeversammlung gegeben haben. Später wird mir erklärt, das sei eine untypische Abstimmung gewesen - die Themen zu abstrakt, um emotional ausgeschlachtet werden zu können, die Wirtschaftskrise und der Bankenwirbel zu bedrohlich, das Machtvakuum einer geschwächten SVP zu groß.
Was vors Volk kommt
Abgestimmt wird in der Schweiz über so gut wie alles. Alle drei Monate. Von Atomkraft bis zu Lastwagenbreiten, vom Schwangerschaftsabbruch bis zur Wanderwegspflege, vom EU-Beitritt bis zum Herbstschulbeginn oder die Braunviehzucht ohne Tageslicht. Überall muss er sich auskennen, der Deutsch- wie der Westschweizer, der Tessiner wie der Graubündner. Das ist behäbig und ermüdend. Und - als wär's nicht kompliziert genug: Zu jeder Abstimmung kommen noch solche über kantonale und kommunale Themen hinzu.
Diesmal geht's im Kanton Zürich um die Volksinitiative über den Halbstundentakt der S-Bahn, außerdem in der Stadt Zürich um eine Baugenehmigung in der Edisonstraße und das Altersheim "Dorflinde". Aber genug der Details. Die Altpapiercontainer sind voll davon. Die Franzosen nennen das bissig: machine à voter, die Abstimmungsmaschine.
Das Volk ist Souverän
Der Föderalismus kostet und gibt Energie. Sind die Diskussionskultur und das politische Selbstverständnis der Schweizer tatsächlich so vital? Die Basler Journalistin Anita Hugi gibt ein Ja, ohne zu zögern. Was sie stört, ist der Widerspruch zwischen den Idealen des "Vielvölkerstaats Schweiz" und der Verweigerung, der ausländischen Bevölkerung politische Rechte zu geben. Doch sonst, die Fixierung auf den Kompromiss sei mühsam, aber letztlich konstruktiv.
Es wird viel diskutiert. Die Alten treffen sich am Stammtisch, die Jungen bloggen sich im Internet durch den Abstimmungswald. Und am Land gibt es die Gemeindeversammlung. Anders als in einem Oppositionssystem müssen sich Politiker und Bürger an den runden Tisch setzen. Oder die Zauberformel gewähren lassen, also die formelle Übereinkunft, dass alle wichtige Parteien in der Regierung vertreten sind.
Lautstarkes Stimmvieh
Das Schweizer System der "direkten Demokratie" orientiert sich nicht am Modell des "Stimmviehs" sondern am souveränen Stimmbürger. Das Referendumsrecht ist darin der starke Pfeiler. Eine Entscheidung referendumssicher zu machen, gilt dementsprechend als höchste politische Kunst.
Mit 100.000 Unterschriften kann jeder Bürger eine Volksabstimmung erzwingen, wenn ihm ein Gesetz nicht schmeckt. Und Politstrategen wissen um das Werkzeug der vermeintlich freien Meinungsbildung.
Ohne qualitativ hochwertige Medien ist das System dem Populismus ausgeliefert, denn die Problematik der Demokratie ist, dass komplexe Zusammenhänge auf ja/nein zusammengestutzt werden. Initiativen gegen sogenannte Off-Roader, also große protzige Autos, oder solche gegen Kampfhunde machen dem Soziologen Kurt Imhof von der Universität Zürich Sorgen:
"Es entstehen neue Formen der öffentlichen Diskussion", meint er, "in der eine Empörungsbewirtschaftung stattfindet. Über partikuläre Interessen werden so Bürger mobilisiert, es kommen Verfassungsartikel auf, die der Grundidee der Verfassung widersprechen. Kurz: Es ist eine Irrationalisierung der Politik. Die direkte Demokratie braucht eine qualitativ hochwertige Öffentlichkeit, sie ist gegenüber dem Zerfall der qualitativ hochwertigen medienvermittelten Kommunikation gefährdeter als eine parlamentarische Demokratie."
1848
Die Schweizer Demokratie basiere weder auf Gleichheit noch auf einer 700-jährigen Tradition, sagt die Historikerin Elisabeth Joris. 1848 läuten freisinnige Bürger ihre Rechte in Form eines föderalen Bundesstaates ein, verweben dann, 1874, amerikanische Statuten mit direkt-demokratischen Elementen.
Als Überbleibsel, folkloristisch überhöht, findet bis heute im Kanton Appenzell und im Kanton Glarus die Landesgemeinde statt: Einmal im Jahr versammeln sich die Bürger am Dorfplatz und heben die Hand. Das Ergebnis wird grob geschätzt. Gelebte offene Versammlungsdemokratie. Machtverhältnisse positionieren sich klar im Raum. Jeder sieht das Votum des Nachbarn.
Demokratie ist immer demokratisch
Seit 1971 dürfen auch die Frauen abstimmen, nur vier Volksabstimmungen und einige Jahrzehnte haben die Schweizer Männer für dieses Ja zu den Frauen an der Urne gebraucht. Das ist keine Seltenheit.
Der Autobahnring Zürich musste auch 20 Jahre warten, auf der ersten Teilstrecke ließ man - tatsächlich! - das Gras wachsen, so viele Rekurse galt es durchzustehen. Dieser Tage wird die Autobahn eröffnet. Oder das Stadion (Hardturm) in Zürich. Das Volk gab das Okay zum Bau, aber zwei Anrainer haben Einspruch erhoben, weil es ihnen die Sicht versperrt und ihnen zwei Stunden weniger Sonne am Tag bringt. Da ist man in der dritten Rekursschleife und im 10. Jahr.
Die Schweizer wissen, dass sie mit ihrer Stimme die Verfassung kippen können. Erst unlängst das Ja zur Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten, ein verfassungs- wie menschenrechtlich bedenklicher Entschluss. Aber er steht. Dafür hat man den Rumänen und Bulgaren Freizügigkeit gewährt. Ja, und das Kiffen (Canabis) bleibt verboten.
Zweimal Ja!
Beide Vorlagen - biometrischer Pass und Alternativmedizin - wurden am 17. Mai bei einer landesweiten Wahlbeteiligung von nicht ganz 40 Prozent angenommen. Und das gegen die eindeutigen Parolen der linken wie rechten Jungparteien und das lautstarke Nein von Medien wie der "NZZ". Das Volk hat abgestimmt.
Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 30. Mai 2009, 17:05 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Link
Demokratie - Schweiz