Die Geschichte eines brasilianischen Forschungsinstituts
Ein Schweizer am Amazonas
Neunzig Prozent des weltweit benötigten Kautschuks wurden vor etwa hundert Jahren über den brasilianischen Hafen Belém umgeschlagen. Das machte die Stadt zum Magneten für Abenteurer, Verbrecher und Banker. Aber auch Wissenschaftler zog es nach Belém.
8. April 2017, 21:58
1894 besetzte der Schweizer Zoologe Emil Goeldi, Zeitgenosse von Charles Darwin, den Direktorenposten des naturhistorischen Museums in der brasilianischen Hafenstadt Belém. Und plötzlich erhielt er eine fürstliche Finanzierung. So konnte Emil Goeldi einen neuen zoologischen und botanischen Garten aufbauen, Forschungslabore einrichten und promoviertes Personal aus der Schweiz, aus Deutschland und aus Österreich engagieren.
Emil Goeldi erweiterte das Museum zu einem der renommiertesten Forschungsinstitute Brasiliens, an dem heute über 700 Menschen arbeiten. Heute besitzt das Museum auch eine eigene Forschungsstation im Urwald. "Um die Station "Cachiuanã" zu erreichen, sind Sie mit dem Boot zwei Tage auf dem Amazonas und seinen Nebenflüssen unterwegs", so Nelson Sanjad, Sprecher des Museums.
Ein Wissenschafts-Pionier
Vor allem öffnete Emil Goeldi das Museum für die einfache Bevölkerung. Außerdem etablierte er umfangreiche Tier- und Pflanzen-Sammlungen und die Taxonomie. "Emil Goeldi holte Leute aus Europa", so Nelson Sanjad. "Sie hielten sich an das wissenschaftliche Konzept, das sich in Zentraleuropa etabliert hatte. Hier im Institut wurde sogar deutsch gesprochen!"
Da Brasiliens Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckte, war Goeldis Arbeit eine Pioniertat. Ihm zu Ehren wurde das Museum nach seinem Tod in "Museu Goeldi" umbenannt. "Ohne Emil Goeldi hätten wir nicht so früh das biologische Wissen über die Amazonasregion systematisiert", so Sanjad. Emil Goeldi blieb dreizehn Jahre in Belém und ging 1907 in die Schweiz zurück. Da war seine Gesundheit von der Malaria, an der alle europäischen Forschungsreisenden im Amazonas litten, bereits sehr angegriffen. Er starb 1907 in Bern.
Unerschrockene Nachfolgerin
Doch die Arbeit des pedantischen und disziplinierten Emil Goeldi wurde im brasilianischen Institut fortgesetzt. Emilie Snethlage, auf Vögel spezialisierte Zoologin aus Deutschland, die schon seit 1905 am Museum arbeitete, wurde von 1914 bis 1921 Direktorin. Sie war familiär ungebunden und konnte viele Forschungs-Expeditionen unternehmen, erzählt die Historikerin Miriam Junghans, die sich mit der abenteuerlichen Biografie von Emilie Snethlage befasst.
"So um 1912 brach Frau Snethlage wieder auf. Sie saß im Boot und ließ fatalerweise ihre Hand ins Wasser hängen. Da biss eine Piranha in den Mittelfinger ihrer rechten Hand. Sie bekam eine Infektion. Und sie fand anscheinend niemanden, der ihr helfen konnte, niemand hatte den Mut. Also nahm sie ein Messer und hackte sich ein Glied des Fingers ab."
Die Geschichten über die unerschrockene Emilie Snethlage machten in Ornithologen-Kreisen in Mitteleuropa die Runde. "Sie hatte das Messer im Stiefel, so sagen wir. Sie war immer bereit." Emilie Snethlage veröffentlichte 1914 das erste Buch über Vögel des Amazonas, ein 500 Seiten dickes Werk. Im Amazonasgebiet leben über 700 Vogelarten, in ganz Mitteleuropa sind es nur etwa 500 Vogelarten.
Forschung unter Polizeischutz
Die Forschungsarbeit des Museums wird heute in den Gegenden, die von illegalen Holzfällern besetzt sind, bedroht. Museumssprecher Nelson Sanjad: "Unsere Leute müssen manchmal anonym reisen. Die Bundespolizei oder die Militärpolizei stellt den Begleitschutz. Die Leute bleiben dort 30 Tage und publizieren nichts, damit sie nicht identifiziert werden können. Sie schreiben vertrauliche Berichte, die nur bei der Regierung landen. Die gedungenen Mörder der Holzfirmen trauen sich an Leute, die von der Militärpolizei geschützt werden, nicht heran."
Dieses Wildwestklima herrscht aber nicht im ganzen Amazonasgebiet. Trotzdem: Die illegalen Holzfäller sind den Behörden immer ein paar Schritte voraus. Insgesamt fielen in den letzten dreißig Jahren über zwanzig Prozent des Amazonasurwaldes der Motorsäge zum Opfer.
Von solchen Entwicklungen hat sich der Schweizer Wissenschafts-Pionier Emil Goeldi sicher nicht träumen lassen. Er und sein europäisches Team, das Anfang des letzten Jahrhunderts in den brasilianischen Urwald zog, liebten den Amazonas. Sie wollten Erkenntnis, keine Zerstörung.
Hör-Tipp
Dimensionen, Montag, 8. Juni 2009, 19:05 Uhr