Auschwitz-Roman von Zyta Rudska

Doktor Josefs Schönste

Die polnische Autorin Zyta Rudska zeigt mit ihrem Roman "Doktor Josefs Schönste" auf eindrucksvolle Weise, wie eine Nachgeborene von Auschwitz erzählen kann. Bei Doktor Josef handelt es sich um Josef Mengele, der grausame Experimente durchführte.

Ein Altenheim in Polen: Männer und Frauen, die auf die Terrasse schlurfen, sabbern, inkontinent sind und endlos ihre Erinnerungen variieren, wobei Phantasie und Realität oft nicht zu unterscheiden sind. Eine gnadenlose Sommerhitze liegt über diesem Szenario, Hoffnung gibt es keine mehr, nur noch Angst vor dem ominösen Haus am See, der letzten Station für die ganz hilflosen Heimbewohner. Aber vielleicht ist ja auch dieses Haus am See nur ein Gerücht. Bleibt nur das Warten auf die Süßkirschen, die die Erinnerungen an die Geheimnisse der Jugend wachrufen. Doch dieses Jahr hat der Direktor auch die Süßkirschen gestrichen, weil sie zu gefährlich sind - wegen der Kerne.

Wie Zyta Rudska aus diesen Details einen Roman komponiert, ist erzähltechnisch und sprachlich bewundernswert: die schier unerschöpflichen Variationen der leitmotivischen Sommerhitze, die viele Kapitel eröffnen, die in verschiedenen Kontexten immer gleichen Sätze über die Süßkirschen und vor allem die Dialoge der Alten, für die sich die Autorin eines genial einfachen Tricks bedient: Es gibt keine Anführungszeichen, und erst eine Zeile später erfährt man durch Sätze wie "Sagte Herr Henoch", "Freute sich Frau Benia" oder "Sagte Frau Czechna laut", dass man gerade die direkte Rede einer Person gelesen hat. So steckt die Lektüre voller Überraschungen, und vor allem: Man liest die Sätze der Alten unvoreingenommen, als Teil einer Beschreibung von außen, bevor sie als subjektive Aussagen relativiert werden.

Große Erinnerungen

Fragmente von Lebensgeschichten und Träumereien, große Erinnerungen und kleine Flunkereien, Funken des Begehrens, die auch im hohen Alter aufblitzen, der Sadismus des Direktors und die Abstumpfung des Personals - das erste ins Deutsche übersetze Buch der polnischen Autorin Zyta Rudska schon als Roman über das Alter ein großer Wurf. Doch aus den Erinnerungen eines ehemaligen Konsuls oder eines früheren Hauptbuchhalters, aus den Geschichten um ferne Angehörige und schmerzlich vermisste Tiere sticht immer wieder eine Frau mit ihrer Vergangenheit hervor: Frau Czechna, die keine Greisin sein will, die immer noch gut aussieht und ihre Windeln sorgsam zu verbergen weiß.

Solange ich hübsch aussehe, lebe ich. Das habe ich schon als Kind begriffen.
Sie zuckte mit den Schultern. Wissen Sie ... ich war immer eine Hübsche. Ich hab Läuse gehabt, Krätze, Ruhr, Typhus, aber ich war immer schön. Eine Puppe wie aus dem Journal. Doktor Josef wusste das zu schätzen. Wenn irgendwelche Kommissionen ins Lager kamen, wurde ich gleich vorgezeigt. Sie wissen sicher gar nicht, wen sie vor sich haben? Na, können Sie es nicht erraten...? Niemand kann es.

Frau Czechna hielt einen Augenblick inne, holte tief Luft: Vor Ihnen, mein lieber Freund, steht die Miss Auschwitz. Ja, so ist es. Miss Auschwitz.


So stellt sich Frau Czechna einem Mitbewohner vor. Und längst schon ist klar, wer Doktor Josef, dessen Familienname erst nach über 200 Seiten genannt wird, war: Josef Mengele, der in Auschwitz die grausamen Experimente mit Zwillingen durchführte.

Als Zwillinge ausgegeben

Frau Czechnas Schwester, Frau Leokadia, ist ebenfalls im Altenheim; in Auschwitz waren sie als Zwillinge ausgegeben worden, um ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Überlebt haben sie tatsächlich, doch ihr Leben war von Auschwitz gezeichnet. Frau Leokadia musste für ihren Mann, wenn er betrunken war, die alte Häftlingskleidung anziehen und zum Appell antreten; so hat er seine eigene Lagererfahrung wiederholt. Und Frau Czechna regiert noch im Heim panisch auf jede Berührung.

Die Berührung durch einen Mann erinnerte Frau Czechna an das Betasten, das Doktor Josefs Assistent vornahm. Sie machten es genauso. Neugierig. Gefühlvoll. Eine forschende, gierige Hand. Er liebte ihre geglätteten Haare. Nach hinten gelegt. Er wollte sie kämmen. Sie legte sich zurück, dass sie über die Stuhllehne fast bis auf die Erde hingen. Er war sehr vorsichtig. Nahm immer nur jeweils eine Strähne. Behutsam setzte er den Kamm an und schob ihn langsam nach unten. Sie war sicher, dass er ihr Zittern spürte. Ihre Angst.

Gefühlsbindung des Opfers an den Täter

Die Zärtlichkeit inmitten brutaler Gewalt, die Faszination Dr. Mengeles für sein hilfloses Opfer und vor allem die lebenslange Gefühlsbindung des Opfers an den Täter - das gehört zu den beklemmendsten Schichten dieses Romans, der den treffenden Titel "Doktor Josefs Schönste" trägt. Noch viele Jahre danach ist Frau Czechna fähig, Menschen mit den Augen von Doktor Mengele zu betrachten und zu wissen: Diese Frau wäre für ihn interessant gewesen. Er ist ihr immer wiederkehrender Alptraum und gleichzeitig derjenige, dem sie das Überleben verdankt:

Er erlaubt, dass sie lebt. Die Beobachtung ihres Schmerzes ist schöner, als ihren Kadaver auf die Schubkarre zu werfen.

Knappe und lapidare Sprache

Die Autorin Zyta Rudska kann es sich leisten, das Zentralthema ihres Romans gleich zu Beginn anzuschlagen - ihre knappe und lapidare Sprache ist stark genug, um nicht auf Überraschungen oder Effekte setzen zu müssen. "Als sie zum ersten Mal vor Doktor Josef stand, als Zwölfjährige, nackt, spürte sie sein Entzücken", lautet der erste Satz des Romans. Und wenige Absätze weiter heißt es:

Er sah sie nur an. Man schob ihre Zwillingsschwester neben sie. Sein Blick glitt über sie hinweg. Sie war anders. Ein kaum wahrnehmbares Kopfnicken. Mit dem Zeigefinger schickte er sie nach rechts, salbte sie zu Forschungsmaterial.

Reale und fiktive Erinnerungen
Aus dieser Anfangsszene, wo sich der sadistische Peiniger und sein zum Überleben entschlossenes Opfer gegenüber stehen, entwickelt sich der ganze Roman. Zyta Rudska, Jahrgang 1967, hat damit auf eindrucksvolle Weise gezeigt, wie eine Nachgeborene von Auschwitz erzählen kann: ohne pseudodokumentarische Leichenberge wie Jonathan Littell, der im Vorjahr mit seinem Roman "Die Wohlgesinnten" Aufsehen erregt hatte, sondern aus dem Material realer und fiktiver Erinnerungen, die einem durch ihre lapidar verknappte Sprache und die monoton mäandrierenden Dialoge im Altenheim nicht so schnell aus dem Kopf gehen.

Buch-Tipp
Zyta Rudska, "Doktor Josefs Schönste", aus dem Polnischen von Esther Kinsky, Ammann Verlag