Krankheiten besser verstehen
Evolutionäre Medizin
Darwin verpackte die Natur in ein Theoriegehäuse, das auch die Medizin auf neue Beine stellen könnte. Das zumindest vermuten Vertreter des noch relativ jungen Feldes der Evolutionsmedizin, die erst vor einigen Jahren formuliert wurde.
8. April 2017, 21:58
Todesfälle durch Verschlucken sind keine Seltenheit. Schuld daran ist die Kreuzung von Atemwegen und Verdauungstrakt in unserem Rachen. Ein komplizierter Mechanismus schließt den Kehldeckel über der Luftröhre, während wir Essen hinunterschlucken. Alles andere wäre lebensbedrohlich, denn Nahrung, die in die Luftröhre gelangt, bedeutet akute Erstickungsgefahr.
Entstanden ist dieses gefährlich komplizierte System im Laufe der Evolution in einer Zeit, als die Vorfahren der Wirbeltiere noch im Wasser lebten. Dieses Beispiel soll zeigen: Die Evolution des Menschen im Auge zu behalten kann helfen, Krankheiten und andere körperliche Beschwerlichkeiten besser zu verstehen.
Es geht um alle Aspekte der Medizin
Schon der Begründer der Evolutionstheorie war mit der Medizin eng vertraut: Als Sohn und Enkel berühmter Ärzte sollte Charles Darwin selbst auch einer werden. Das vom Vater attestierte "Zeug zum Arzt" nutzte Darwin bekanntlich nicht. Stattdessen wurde er Naturforscher - und er war zeitlebens chronisch krank. Mit den Erkenntnissen seiner Arbeit verpackte er die Natur allerdings in ein Theoriegehäuse, das auch die Medizin auf neue Beine stellen könnte.
Das zumindest vermuten Vertreter des noch relativ jungen Feldes der Evolutionsmedizin. Explizit formuliert wurde die Evolutionsmedizin erst vor einigen Jahren durch den Psychiater Randolph Nesse und den Evolutionsbiologen George Williams. 1998 erschien die deutsche Übersetzung ihres Buches unter dem Titel "Warum wir krank werden: Die Antworten der Evolutionsmedizin." Mehr als zehn Jahre später erklärt Randolph Nesse die Idee dahinter heute so:
"Das ist der Versuch, die Evolutionsbiologie auf jeden Bereich der Medizin anzuwenden. Es geht nicht nur darum, zu fragen, weshalb der menschliche Körper modernen Umweltbedingungen nicht gut genug angepasst wäre, oder weshalb wir Fieber bekommen - es geht um alle Aspekte der Medizin. Worum es allerdings nicht geht: Es geht weder darum, den Menschen zu verbessern, noch geht es um eine Opposition zur herkömmlichen Schulmedizin. Und evolutionäre Medizin schreibt auch nicht explizit vor, wie wir Patienten behandeln sollen."
Woher kommt der Mensch?
"Es geht darum, den Hintergrund, die Bedeutung und die Entstehung von Krankheiten in einem evolutionären Zusammenhang zu verstehen, betont Randolph Nesse: "Da gibt es ganz andere Fragen, die wir im Zusammenhang mit Krankheit stellen können. Zum Beispiel: Warum hat die natürliche Selektion einen so verletzlichen Körper hervorgebracht?"
Die Antwort auf die Frage lautet in vielen Fällen: Anpassung und natürliche Selektion. "Gesundheit ist wesentlich abhängig von den Arbeits-, Lebens- und Umweltverhältnissen. Mit diesen wird bereits auf zellulärer Ebene Gesundheit "geprägt", schreibt die Medizinerin Luzie Verbeek in ihrem im Frühjahr 2009 im Kovac Verlag erschienenen Buch "Darwinsche Medizin - Evolutionsbiologie in Gesundheit und Wissenschaft".
"Eine 'artgerechte Haltung' ist auch für den Menschen mit seinen psychologischen sowie physiologischen Bedürfnissen wichtig. Der Frage 'Woher kommt der Mensch?' sollte daher mehr Bedeutung zukommen, ohne damit anstreben zu wollen, dorthin zurückzukehren."
Mehr ganzheitliches Denken
Darin, der Medizin wieder mehr ganzheitliches Denken zu verschaffen, sieht Luzie Verbeek eine der großen Chancen der Schulmedizin. Die Schulmedizin könnte alternative Heilmethoden einbeziehen, die Erkenntnisse intuitiv möglicherweise schon längst berücksichtigen, die sich jetzt mithilfe der Evolutionären Medizin auch wissenschaftlich untersuchen und reflektieren lassen.
Hör-Tipp
Dimensionen, Dienstag, 23. Juni 2009, 19:05 Uhr
Alle Sendungen zu "Projekt Darwin" der kommenden und vergangenen 35 Tage finden Sie in oe1.ORF.at
Buch-Tipps
Randolph Nesse, George Williams, "Warum wir krank werden: Die Antworten der Evolutionsmedizin", Goldmann
Luzie Verbeek, "Darwinsche Medizin - Evolutionsbiologie in Gesundheit und Wissenschaft", Kovac Verlag