Die Welt der Vortragsbezeichnungen
Molto espressivo
Musikalische Vortragsbezeichnungen bieten Anlass für heftige Diskussionen über vermeintlich "richtige" oder "falsche" Interpretationen. In der klassischen Musik versteht man unter Vortragsbezeichnungen schriftliche Angaben im Notentext.
8. April 2017, 21:58
"Con fuoco" - "martellato" - "teneramente" - allein der Klang dieser Worte zergeht einem förmlich auf der Zunge. Ein musikalischer Laie, der überdies des Italienischen unkundig ist, wird bei diesen Lauten wahrscheinlich zuerst einmal an Köstlichkeiten in einem italienischen Eissalon denken. Weit gefehlt! Wobei, mit Kulinarischem im weitesten Sinne haben diese Bezeichnungen schon etwas zu tun.
"Mit Feuer" … "gehämmert" … "zärtlich" - das sind nur drei der vielen musikalischen Vortragsbezeichnungen. In der klassischen Musik versteht man unter Vortragsbezeichnungen schriftliche Angaben im Notentext, die den ausführenden Musiker/ innen weitergehende Hinweise zur Ausführung des Musikstücks vermitteln sollen.
Traditionell Italienisch
Diese Anweisungen sind traditionell oft in italienischer Sprache und beziehen sich einerseits auf Tempo, Artikulation und die (wechselnde) Lautstärke, andererseits auf den gewünschten emotionalen Ausdrucksgehalt der Komposition. Italienisch sind sie deshalb, weil in Italien seit dem frühen 17. Jahrhundert begonnen wurde, Vortragsbezeichnungen zunächst innerhalb der Sätze beim Tempowechsel (der auch meist ein Taktwechsel war) oder beim Wechsel von "forte" (laut) auf "piano" (leise) zu verwenden. Später wurden diese Bezeichnungen auch am Anfang eines Satzes verwendet.
Daneben entstand in Frankreich nach 1750 ein umfangreiches Vokabular an Anweisungen, die besonders zur Kennzeichnung des emotionalen Gehalts der Musik dienten: "gracieusement" und "tendrement" beispielsweise. Da denkt der "Klischeebolzen" in mir sogleich an einen Charmeur wie Charles Aznavour, der einer atemlosen Frau die Worte "graziös" und "zärtlich" ins Ohr flüstert. Etwas in dieser Art machte er übrigens einmal in der Muppet Show mit Miss Piggy, doch die Hinschmachtende war leider des Französischen nicht mächtig, so konnte Aznavour die charmantesten Beleidigungen aufsagen. Wenn die Sprache halt so schön klingt.
Barockes Regelwerk
Doch zurück zu den Vortragsbezeichnungen. In Deutschland wurden die französischen, vor allem aber die italienischen Spielanweisungen übernommen, und auch deutsche Worte tauchten allmählich in Notentexten auf. Besonders ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren diese Angaben immer häufiger zu finden. Die Vortragsweise war immer mehr in der Komposition selbst verankert, und in Zusammenhang mit dem Verzicht auf traditionelle Satz- und Thementypen wurden auch die Elemente des Vortrags freier verfügbar.
Vereinfachend formuliert: Ein Musiker des Frühbarock wusste genau, wie das Notenblatt vor ihm zu interpretieren war (wobei er mehr Möglichkeiten zur persönlichen Ausschmückung des Notentextes hatte als spätere Generationen), einem Instrumentalisten oder Sänger in der Romantik, selbst wenn er der barocken Affektenlehre noch kundig war, musste der Komponist zusätzliche Anweisungen geben, da das barocke Regelwerk keine Gültigkeit mehr hatte.
Extreme Entwicklungen
Und mit dieser Entwicklung schlug die große Stunde der schriftlichen Angaben im Notentext bis hin zu Formen zeitgenössischer Musik, wo bei fast jeder Note eine oder mehrere Vortragsbezeichnungen zu finden sind. Die Musikerinnen und Musiker könnten ja etwas falsch interpretieren...
Das ist sicherlich eine extreme Entwicklung, die die Freiheiten der ausführenden Spieler ziemlich beschränkt. Auch sehr originelle Vortragsbezeichnungen lassen sich bei verschiedenen Komponisten finden: Eric Satie gibt einmal die Anweisung "sehr neun Uhr morgens zu spielen". Und in seinen "Embryons desséchés" steht: "Wie eine Nachtigall mit Zahnschmerzen". Eine wirklich inspirierende und nebenbei noch sehr anschauliche Angabe zum gewünschten Vortrag! Legendär ist auch die Anweisung im Finale von Paul Hindemiths Bratschensonate op. 25: "Rasendes Zeitmaß. Wild. Tonschönheit ist Nebensache."
Interpreten werden Stars
Der Interpret ist, abgesehen von Sängerstars, die es schon im Barock gab, weitgehend eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Bis dahin spielten die Komponisten normalerweise ihre eigenen Werke. Besonders im 20. Jahrhundert wurden die ausführenden Musiker die eigentlichen Stars des Konzertbetriebes, da nur wenige neue Werke in das populäre Konzertrepertoire aufgenommen wurden und so ein gewisser Kanon an Kompositionen immer wieder von verschiedenen Musikern gespielt und gesungen wurde.
Damit lösten die Interpreten die Komponisten als gefeierte Stars des Konzertbetriebes ab. Und der Interpretationsspielraum ergibt sich dabei aus der individuellen Deutung der Vortragsbezeichnungen: Wie fühlen Musikerinnen und Musiker das vorgeschriebene Tempo, welche dynamischen Schattierungen wählen sie, wie artikulieren sie die melodischen Bögen? Dieser Spielraum bietet nicht selten einen Anlass für zum Teil sehr heftig geführte Diskussionen unter Musikfreunden über vermeintlich "richtige" oder "falsche" Interpretationen.
Radikale Interpretationen
Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Kontroverse um den Pianisten Ivo Pogorelich. Berühmt wurde er 1980, als er in der dritten Runde des Chopin-Wettbewerbs scheiterte, woraufhin das Jurymitglied Martha Argerich wutentbrannt die Wettbewerbsjury verließ. Pogorelichs radikale, wie aus dem Moment erzeugte und doch stets genau durchdachte Interpretationen werden von einigen Kritikern als manieristische Zumutung, von seinen Anhängerinnen und Anhängern wiederum als Erlebnis empfunden.
Besonders sein Umgang mit den Tempi überschreitet bisweilen die Grenzen der Werkstruktur. Sein Spiel lässt auf jeden Fall niemanden kalt (was für mich auch ein Qualitätskriterium darstellt) und ist ohne Zweifel "molto espressivo".
Mehr über musikalische Begriffe im Ö1 Musiklexikon
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 29. Juni bis Donnerstag, 2. Juli 2009, 9:45 Uhr und 22:40 Uhr