Wo Erste und Dritte Welt aufeinanderprallen
Träume von Flüssen und Meeren
Tim Parks' vierzehnter Roman beginnt langsam, am Ende aber ist es ein rasanter Text. Es ist ein literarischer, emotionaler Thriller, in dem nach und nach, Schicht um Schicht, die wahren Beweggründe der Personen offengelegt werden.
8. April 2017, 21:58
Wenn Tim Parks' neuer Roman beginnt, ist der Held des Textes bereits tot. Albert James war ein berühmter Anthropologe; ein brillanter, aber umstrittener Theoretiker, der in Indien lebte und an Prostata Krebs gestorben ist. Posthum versuchen nun drei Leute, das Geheimnis rund um den Tod des Wissenschaftlers zu lüften - und sich selbst neu zu erfinden.
Da ist einmal Helen, die Witwe. 30 Jahre lang war sie mit Albert verheiratet und so wie es scheint, lebten sie die perfekte Ehe. Dann gibt es John, den Sohn der beiden. Mitte 20, aber noch immer mehr das verwöhnte, wenn auch nicht gewollte Kind, als ein erwachsener Mann. Schlussendlich taucht noch ein amerikanischer Journalist auf, der unbedingt die Biografie von Albert James schreiben will.
Durchs Leben tapsen
Parks' vierzehnter Roman spielt in Indien. Es ist das erste Mal, dass der Autor eine Geschichte außerhalb Europas ansiedelt. Indien erscheint hier als das große Unbekannte, als ein Land, in dem die Erste auf die Dritte Welt prallt und das den westlichen Besucher durch und durch verunsichert. Als John zum Begräbnis seines Vaters nach New Delhi kommt, verirrt er sich in der Stadt. Er findet keine Bezugspunkte; alles macht ihm Angst. Bis zum Schluss wird er dem Land nichts abgewinnen können. Für ihn bleibt es ein Ort des Ungeziefers, des Schmutzes und des Todes.
Das Sich-nicht-zurecht-finden, das Umhertasten ist die Hauptmetapher in diesem Buch, denn auch die Protagonisten tappen durch ihr Leben - und durch die Geheimnisse ihrer Beziehungen. Die Ehe zwischen Helen und Albert war keineswegs so glücklich und symbiotisch, wie es nach außen hin schien. Und warum schrieb Albert seinem Sohn kurz vor seinem Tod diesen unverständlichen Brief, in dem er über seine Träumen von Flüssen und Meeren erzählt? Warum widmete sich der Vater vor seinem Ableben so intensiv Spinnennetzen? Und warum lässt sich seine Mutter mit dem Journalisten ein?
Individualität ist nicht alles
Als Vorbild für den Forscher Albert James diente Parks der britische Anthropologe Gregory Bateson. In seinen frühen Arbeiten beschäftigte den 1904 geborenen Bateson die Tatsache, dass der einzelne Mensch zwar eine Individualität besitzt, aber dennoch mit der Kultur, in der er lebt, vollkommen verwoben ist. Menschen kommunizieren in Gruppen so untereinander, dass jeder bei zentralen Fragen nur eine bestimmte Auswahl an Entscheidungsmöglichkeiten hat.
Bateson entwickelte die These, dass innerhalb einer Gesellschaft alles sehr eng miteinander zusammenhängt. Und so standen der fiktionale Charakter Albert James und der reale Forscher Gregory Bateson vor dem gleichen Problem: Greift man von außen in eine Gesellschaft ein, verändert man sie. Was also tun?
Der Schatten des Toten
In den 30 Jahren ihrer Ehe haben sich Albert und Helen mehr und mehr auseinanderentwickelt. Helen arbeitet rund um die Uhr für wenig Geld als Ärztin in einem Armenspital. Sie opfert sich auf, um den Menschen zu helfen. Albert hingegen ist zu dem Schluss gekommen, dass die Probleme der westlichen Welt mit dem zwanghaften Streben nach Erfolg und der Manipulation von anderen zu tun haben. Deshalb hat er immer danach getrachtet, niemanden zu beeinflussen. Was leichter gesagt als getan ist. Denn natürlich glaubt er an seine These und will andere davon überzeugen; andererseits besagt die Theorie aber, dass genau dieses Überzeugen-wollen das Grundübel der westlichen Welt darstellt. Und so hat sich Albert mehr und mehr zurückgezogen. Von seiner Frau, von seinem Sohn.
Der tote Albert hängt wie ein Schatten über den Anderen. Noch immer bestimmt er ihr Verhalten. Soll Helen auf das Angebot des Journalisten eingehen und ihn bei der Biografie über ihren Mann unterstützen? Was auch bedeutet, sich nur mehr als Witwe zu definieren, als Mensch, dessen eigenes Leben nur in Bezug auf das des Anderen gelebt wird. Zu Beginn steht sie den Journalisten noch kritisch gegenüber - am Schluss landet sie in dessen Bett.
Überhaupt geht es in diesem Buch sehr promikskuitiv zu. Johns Freundin, eine Schauspielerin, weigert sich, ihn zu heiraten und hat stattdessen wohl ein Verhältnis mit ihrem japanischen Regisseur. John selber verfällt in Delhi den Reizen einer schönen Sikh-Frau.
Rasanter Text
"Träume von Flüssen und Meeren" beginnt langsam, am Ende aber ist es ein rasanter Text, in dem es um Mord, Selbstmord und Wahnsinn geht. Es ist ein literarischer, emotionaler Thriller, in dem nach und nach, Schicht um Schicht, die wahren Beweggründe der Personen offengelegt werden. In dem brodelnden Delhi verschwinden alle Gewissheiten, und übrig bleiben Menschen, die nichts mehr haben außer sich selbst.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 3. Juli 2009, 16:55 Uhr
Ex libris, Sonntag, 5. Juli 2009, 18:15 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
Buch-Tipp
Tim Parks, "Träume von Flüssen und Meeren", aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Becker, Kunstmann Verlag
Link
Kunstmann Verlag - Tim Parks