Das Konzept Staatsbürgerschaft und seine Karriere

Der Aufstieg des Konzepts Staatsbürgerschaft

"Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen", stellte Bertolt Brecht 1941 sarkastisch fest. Welchen Pass und welche Staatsbürgerschaft man besitzt, entscheidet bis in die Gegenwart, welche politischen und sozialen Rechte man wahrnehmen kann.

"Wie frei ein Mensch ist, bestimmt sein Reisepass". Diese Erfahrung muss die in Warschau lebende weißrussische Soziologin Nelly Bekus-Goncharova jedes Mal von neuem machen, wenn sie in einen EU-Staat einreisen will.

Welche Staatsbürgerschaft man besitzt, entscheidet nicht nur darüber, ob man ungehindert reisen kann oder wie Nelly Bekus-Goncharova unzählige Visahürden überwinden muss. Seit der Entstehung der modernen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert ist Staatsbürgerschaft das zentrale Kriterium geworden, über das politische Gemeinwesen Ein- und Ausschluss regulieren.

"Staatsbürgerschaft gibt jedem Einzelnen einen Platz in der Welt", erklärt Maarten Vink, Politikwissenschaftler an der Universität Maastricht. "Ohne Staatsbürgerschaft können Sie nicht reisen, Sie können nicht wählen, und sehr oft werden Sie auch Schwierigkeiten haben, wenn Sie Sozialleistungen in Anspruch nehmen wollen. Umgekehrt machen die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger die Identität eines Staates aus. Ein Staat wird durch ein Territorium und durch ein Staatsvolk definiert, und ohne Bürgerinnen und Bürger ist ein Staat kein Staat."

Liberalisierende und autoritäre Elemente

Vorläufer des Konzepts Staatsbürgerschaft finden sich zwar schon in den Stadtstaaten des antiken Griechenland. Ein Verständnis von Staatsbürgerschaft, wie wir es heute kennen, entwickelt sich jedoch erst im Zuge der bürgerlichen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts.

Parallel mit der Forderung nach mehr Teilhaberechten bilden sich damals die ersten Nationalstaaten heraus. "Diese beiden Bewegungen verknüpfen sich und definieren nun Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen über das neue Institut Staatsbürgerschaft", sagt der in Wien lebende Politikwissenschaftler Bernhard Perchinig.

"Ein Institut, das einerseits mit Rechten verbunden ist – vor allem mit dem politischen Wahlrecht – und andererseits aber auch die Verpflichtung inkludiert, für den Staat in den Krieg zu ziehen. Dem Konzept Staatsbürgerschaft wohnt also von Anfang an sowohl ein liberalisierendes und als auch ein autoritäres Element inne."

Bürgerliche, politische und soziale Staatsbürgerschaft

Quer durch Europa hält das Konzept Staatsbürgerschaft im 19. Jahrhundert Einzug in die Gesetzestexte. Im 20. Jahrhunderts wird es schließlich zu einem Rechtsbündel, das fast überall in Europa drei zentrale Elemente beinhaltet: "Gleichheit vor dem Gesetz; Gleichheit bei der politischen Beteiligung und Gleichheit beim Zugang zu sozialen Grundsicherungen und zu Bildung", erklärt Bernhard Perchinig.

Ein linearer Prozess ist diese Ausweitung von Staatsbürgerrechten aber keineswegs. Gleiche politische Staatsbürgerrechte für Männer und Frauen im Sinne des allgemeinen und gleichen Wahlrechts setzen sich in Europa etwa erst im 20. Jahrhundert flächendeckend durch.

Besondere Rückschläge beim Zugang zu staatsbürgerlichen Rechten erfahren gegenwärtig Einwanderer und Einwandererinnen. In zahlreichen europäischen Ländern wurden seit den späten 1990er Jahren die Anforderungen für den Erwerb der Staatsbürgerschaft verschärft. Neben einer bestimmten Aufenthaltsdauer sind nun auch häufig Einkommensnachweise vorzulegen, Sprachkenntnisse vorzuweisen, Integrationstests abzulegen und hohe Gebühren zu zahlen - so auch in Österreich.

Demokratiepolitische Herausforderungen

Als Effekt restriktiverer Staatsbürgerschaftsgesetzgebungen wächst die Zahl jener Menschen, die auf Dauer als Rechtsunterworfene in einem Staat leben, ohne dessen Staatsbürgerschaft zu besitzen. Ein demokratiepolitisch bedenklicher Trend, so Rainer Bauböck, Professor für politische und soziale Theorie am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz.

"Denn mit welchem Recht kann man Menschen von der Staatsbürgerschaft ausschließen, wenn sie schon zehn Jahre oder länger im Land leben? Die dazu gehören nach allen Kriterien, aber im Grunde genommen wie die ausgegrenzten Metöken in der griechischen Antike einfach nicht teilhaben können an der Demokratie? Der amerikanische Philosoph Michael Walzer hat es einmal so formuliert: Wenn man den Zugang zu Staatsbürgerschaft für ansässige Einwanderer nicht öffnet, dann verwandelt sich die Demokratie in eine Tyrannei der Bürger über die Fremden."

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Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 6. Juli bis Donnerstag, 9. Juli 2009, 9:05 Uhr

Buch-Tipps
Rainer Bauböck, Bernhard Perchinig, Wiebke Sievers (Hg.), "Citizenship Policies in the New Europe", Amsterdam University Press 2007 (IMISCOE Research)

Rainer Bauböck, Eva Ersbøll, Kees Groenendijk, Harald Waldrauch (Hg.), "Acquisition and Loss of Nationality. Policies and Trends in 15 European states", 2 Bände, Amsterdam University Press 2006

Rainer Bauböck (Hg.), "Migration and Citizenship. Legal Status, Rights and Political Participation", Amsterdam University Press 2006

Christoph Conrad, Jürgen Kocka (Hg.), "Staatsbürgerschaft in Europa. Historische Erfahrungen und aktuelle Debatten", Edition Stiftung Körber 2001.

Waltraud Heindl, Edith Saurer (Hg.), "Grenze und Staat. Passwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750-1865", Böhlau 2000.

L’HOMME. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, Heft 10/1 (1999): Citizenship (Herausgegeben von Erna Appelt).

Gerd Valchars, "Defizitäre Demokratie. Staatsbürgerschaft und Wahlrecht im Einwanderungsland Österreich", Braumüller 2006 (Studienreihe Konfliktforschung, Band 18).

Links
Eurozine - Living in visa territory
Eurozine - Wer sind die Bürger Europas?
Demokratiezentrum Wien
European Union Democracy Observatory on Citizenship
Institut für europäische Integrationsforschung