Regulierung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft
Aktuelle Staatsbürgerschaftspolitiken in Europa
Wer europäischer Unionsbürger oder europäische Unionsbürgerin werden will, ist nach wie vor auf 27 nationalstaatliche Varianten im Zugang zu diesem Status angewiesen. Diese könnten nicht unterschiedlicher sein. Eine Bestandsaufnahme.
8. April 2017, 21:58
"Stellen Sie sich eine türkische Familie vor, deren Mitglieder sich in unterschiedlichen EU-Ländern niederlassen. Ein nach Belgien ausgewanderter Bruder kann nach drei Jahren im Land die belgische Staatsbürgerschaft beantragen. Als EU-Bürger kann er dann seine Schwester in Österreich besuchen, wo er sofort nach seiner Ankunft an Europa- und Kommunalwahlen teilnehmen darf. Seine Schwester hingegen, die die ganze Zeit in einer österreichischen Stadt gelebt hat, ist von jeder demokratischen Partizipation ausgeschlossen. Sie muss zehn Jahre warten, bevor sie die österreichische Staatsbürgerschaft beantragen kann."
Das, so der Politikwissenschaftler Rainer Bauböck, ist nur eines von vielen Beispielen dafür, wie stark die Regelungen für den Erwerb der Staatsbürgerschaft innerhalb der Europäischen Union gegenwärtig variieren.
Gemeinsam mit der britischen Rechtswissenschaftlerin Jo Shaw koordiniert Rainer Bauböck das European Citizenship Observatory, ein am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz angesiedeltes Projekt, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus ganz Europa Zahlen und Fakten zu den Staatsbürgerschaftspolitiken in mehr als 30 europäischen Staaten analysieren.
Trend zur Stärkung des "ius soli"
Gibt es so etwas wie gemeinsame Trends in den europäischen Staatsbürgerschaftsgesetzgebungen? Ein Trend ist sicherlich die zunehmende Tolerierung von Mehrfachstaatsbürgerschaften, sagt Rainer Bauböck. Ein zweiter Trend, der vor allem in den 15 alten EU-Mitgliedstaaten zu beobachten sei, die deutliche Stärkung des "ius soli", des Territorialprinzips.
Traditionellerweise hatten sich die meisten Staatsbürgerschaftsgesetze in Europa auf das "ius sanguinis" berufen, also auf die Übertragung der Staatsbürgerschaft der Eltern auf das Kind. So konnte es passieren, dass selbst in Österreich geborene Kinder als Ausländer aufwuchsen und im Extremfall in das Herkunftsland ihrer Vorfahren abgeschoben werden konnten.
Ein ausgeprägtes ius soli gilt als zentraler Indikator dafür, wie liberal die Staatsbürgerschaftspolitik eines Landes ist. Nicht von ungefähr haben alle Staaten, die in den letzten Jahren den Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtert haben, auch die Einbürgerungshürden für im Land geborene Kinder gesenkt - so etwa Belgien, Luxemburg, Schweden, Finnland und Portugal.
Liberales Vorzeigebeispiel: Portugal
Portugal hat im Frühjahr 2006 insgesamt eine exemplarische Liberalisierung vollzogen, erklärt Rainer Bauböck. Die notwendige Aufenthaltsdauer für eine Einbürgerung wurde auf sechs Jahre verkürzt, wobei sogar illegaler Aufenthalt anerkannt wird. Auch Einkommenskriterien wurden im Anforderungsprofil gestrichen - "alles das ist sehr progressiv und liberal im europäischen Vergleich", meint Rainer Bauböck.
Von einem durchgängigen Trend zur Liberalisierung des Zugangs zu Staatsbürgerschaft könne aber keine Rede sein. "Es gibt eine Gegenbewegung bei der Frage, wie selektiv das Einbürgerungsverfahren sein soll."
Restriktive Gegenbeispiele: Dänemark und Österreich
Die höchsten Einbürgerungshürden in Westeuropa gibt es derzeit, so Rainer Bauböck, in Dänemark und Österreich. "In diesen beiden Staaten gibt es auch keine Lockerung in der Frage der Doppelstaatsbürgerschaft". Die Novelle des Staatsbürgerschaftsgesetzes im Jahr 2006 hat es Auslandsösterreichern zwar leichter gemacht, die österreichische Staatsbürgerschaft zu behalten; für Einwanderer gibt es jedoch kaum Erleichterungen.
"Hier ist es in zwei Wellen 1998 und 2006 eher zu Verschärfungen gekommen - mit schwierigeren Kriterien, was Unbescholtenheit betrifft, höheren Gebühren und zum Teil auch längeren Wartefristen."
Plädoyer für gemeinsame europäische Standards
Angesichts der starken Differenzen beim Zugang zu Staatsbürgerschaft in der Europäischen Union plädiert Rainer Bauböck für die Entwicklung gemeinsamer Einbürgerungsstandards.
"Das würde nicht heißen, dass uns plötzlich die Union vorschreibt, welche Staatsbürger in jedem Mitgliedsland aufgenommen werden. Aber wenn jedes Mitgliedsland Unionsbürger produziert, die dann Freizügigkeit genießen und sich anderswo niederlassen können, dann gibt es ein gemeinsames Interesse aller Regierungen, dass die Standards nicht allzu ungleich werden." Und das ist keineswegs als Aufforderung zur Nivellierung auf restriktivstem Niveau zu verstehen.
Mehr zum Thema "Staatsbürgerschaft" in oe1.ORF.at
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Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 6. Juli bis Donnerstag, 9. Juli 2009, 9:05 Uhr
Buch-Tipps
Rainer Bauböck, Bernhard Perchinig, Wiebke Sievers (Hg.), "Citizenship Policies in the New Europe", Amsterdam University Press 2007 (IMISCOE Research)
Rainer Bauböck, Eva Ersböll, Kees Groenendijk, Harald Waldrauch (Hg.), "Acquisition and Loss of Nationality. Policies and Trends in 15 European states", 2 Bände, Amsterdam University Press 2006
Rainer Bauböck (Hg.), "Migration and Citizenship. Legal Status, Rights and Political Participation", Amsterdam University Press 2006
Christoph Conrad, Jürgen Kocka (Hg.), "Staatsbürgerschaft in Europa. Historische Erfahrungen und aktuelle Debatten", Edition Stiftung Körber 2001.
Links
Eurozine - Wer sind die Bürger Europas?
Demokratiezentrum Wien
European Union Democracy Observatory on Citizenship
Institut für europäische Integrationsforschung
IMISCOE - NATAC Project