Staatenlosigkeit als ungelöstes Problem
Staatenlose in Europa
Während des Ersten Weltkriegs werden sie erstmals zum Massenphänomen, verschwunden sind sie bis heute nicht: Menschen ohne Staatsbürgerschaft. Hans Kelsen beschrieb sie als völkerrechtlich "Vogelfreie" - Menschen, denen kein Staat Schutz garantiert.
8. April 2017, 21:58
Wer seine Staatsbürgerschaft verliert, verliert nicht weniger als das Recht, Rechte zu haben. Das ist das bittere Fazit, das die Philosophin Hannah Arendt angesichts der prekären Situation der europäischen Staatenlosen vor und während des Zweiten Weltkriegs zieht.
Damals erlebt das Phänomen Staatenlosigkeit in Europa seinen traurigen Höhepunkt. Hunderttausende Menschen werden aus politischen, nationalen oder ethnischen Gründen ausgebürgert. Sie verlieren ihr Wahlrecht, ihre sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche, ihr Vermögen, ihren Pass - und damit nicht selten die Möglichkeit, zu flüchten.
Menschenrechte nur für Staatsbürger?
In einer Welt von Nationalstaaten gäbe es Menschenrechte nur für den Nationalstaatsbürger, nicht aber für den Menschen an sich, kritisierte Arendt 1951 in ihrem Hauptwerk "Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft".
Auch heute noch sind Menschen ohne Staatsbürgerschaft in vielen Staaten Menschen dritter Klasse. "Ein Staatenloser existiert rechtlich überhaupt nicht, wenn er nicht durch Staatenlosenkonventionen abgesichert ist", erklärt Roland Schönbauer, Leiter des Österreich-Büros des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR. "Je nach Situation hat ein Staatenloser nicht einmal Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt. Er darf nicht frei reisen und er ist von der politischen Teilhabe, aber auch von grundlegenden Sozialleistungen eines Staates ausgeschlossen."
Groben Schätzungen des UNHCR zufolge gibt es gegenwärtig mehr als zwölf Millionen Staatenlose weltweit; für Österreich schätzt man die Zahl der Betroffenen auf 500.
Gründe für Staatenlosigkeit
Staatenlosigkeit kann viele Ursachen haben. Im Extremfall beginnt sie schon bei der Geburt, da nicht alle Länder auf der Welt Neugeborene automatisch registrieren. Kinder staatenloser Eltern beginnen ihr Leben ebenfalls als Staatenlose.
Daneben gibt es eine Reihe von Gründen, warum man eine vorhandene Staatsbürgerschaft verlieren kann: Staatsauflösungen, Gebietsabtretungen, "Treueverletzungen" gegenüber dem Staat oder die willkürliche Aberkennung der Staatsbürgerschaft. Theoretisch kann man auf seine Staatsbürgerschaft auch freiwillig verzichten.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde zwar eine Reihe völkerrechtlicher Instrumente entwickelt, um das Phänomen Staatenlosigkeit einzudämmen und die Situation der Betroffenen zu verbessern. Ein völliges Verbot von Ausbürgerungen gibt es allerdings bis heute nicht.
Staatenlosigkeit nach 1989
In den letzten 20 Jahren ist Staatenlosigkeit in Europa vor allem im Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens, der Sowjetunion und der Tschechoslowakei wieder virulent geworden. Denn bei allen neu gegründeten Folgestaaten galt es eine zentrale Frage zu klären: Wer soll berücksichtigt werden, wenn es um die anfängliche Bestimmung des Staatsvolks geht?
Am restriktivsten fiel die Antwort in Lettland und Estland aus. Dort wurde mit der Unabhängigkeit Anfang der 1990er Jahre das alte Staatsbürgerrecht aus dem Jahr 1940 wieder eingeführt. Für jene Personen und deren Nachkommen, die erst danach eingewandert waren – meist russische Arbeiterinnen und Arbeiter - hatte das drastische Konsequenzen, erklärt Wiebke Sievers, Übersetzungswissenschaftlerin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Sie hatten kein automatisches Recht auf die Staatsbürgerschaft des neuen Staates und fanden sich als Staatenlose wieder. Betroffen war davon rund ein Drittel der Bevölkerung; allein in Lettland wurden im Jahr 1993 673.398 Staatenlose und Ausländer gezählt.
Graduelle Verbesserungen im Baltikum
In Estland ist der Anteil der Staatenlosen und Ausländer an der Bevölkerung zwar von 32 Prozent im Jahr 1992 auf 9 Prozent im Jahr 2008 gesunken, in Lettland beträgt ihr Anteil aber immer noch 20 Prozent, sagt Wiebke Sievers.
Staatenlose bekommen dort zwar mittlerweile eine Art Fremdenkarte, die es ihnen etwa erlaubt, zu reisen, ein Ersatz für eine Staatsbürgerschaft sei das jedoch keineswegs, betont André Liebich vom Graduate Institute of International and Development Studies in Genf.
"Menschen, die nicht im vollen Sinn Staatsbürger sind, haben keine Garantie, dass sich ihr Aufenthaltsstatus nicht von einem auf den anderen Tag ändert und dass sie, wenn sie das Staatsgebiet verlassen, auch wirklich wieder einreisen können. Die einzige wirkliche Garantie dafür ist Staatsbürgerschaft."
Mehr zum Thema "Staatsbürgerschaft" in oe1.ORF.at
Der Aufstieg des Konzepts Staatsbürgerschaft
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Transnationale Bürgerschaft
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 6. Juli bis Donnerstag, 9. Juli 2009, 9:05 Uhr
Buch-Tipps
Rainer Bauböck, Bernhard Perchinig, Wiebke Sievers (Hg.), "Citizenship Policies in the New Europe", Amsterdam University Press 2007 (IMISCOE Research)
Rainer Bauböck, Eva Ersbøll, Kees Groenendijk, Harald Waldrauch (Hg.), "Acquisition and Loss of Nationality. Policies and Trends in 15 European states", 2 Bände, Amsterdam University Press 2006
Hannah Arendt, "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft", Piper 2008.
Links
UNHCR - Grundlagen zu Staatenlosigkeit
IMISCOE - NATAC Project