Eine neue Wahrnehmungsweise

Futurismus

Vor 100 Jahren erschien das Futuristische Manifest von Filippo Tommaso Marinetti im "Le Figaro". Das Manifest wurde zum Gründungsmoment der historischen künstlerischen Avantgarde, die mit den Konventionen des bürgerlichen Kunstverständnisses brach.

Vor 100 Jahren erschien das vom italienischen Künstler Filippo Tommaso Marinetti verfasste Futuristische Manifest in französischer Sprache in der Zeitung "Le Figaro". Ersonnen in einer "rasenden Nacht", die damit endete, dass Marinettis Automobil in einem industriellen Abwasserkanal landete, verkörpert das Manifest die Widersprüche des futuristischen Unterfangens.

Das Manifest forderte einen radikalen Bruch mit der Kunst der Vergangenheit und verherrlichte die Technologien des Industriezeitalters, die Stadt, die Elektrizität, die Schnelligkeit, aber auch die Gewalt und den Krieg. Chauvinistische und anti-feministische Züge sind ebenso präsent, wie anarchistische und utopische Tendenzen.

Neue Ausdrucksformen in Malerei, Bildhauerei und Musik

"Gefährlich leben!" lautete das von Friedrich Nietzsche ausgegebene Motto, dem die Futuristen bereitwillig folgten. "Das Begräbnis des Anarchisten Galli", ein Gemälde von Carlo Carrá aus dem Jahr 1911, zieht den Betrachter völlig in den Tumult der Straßenschlacht, erlaubt keinen distanzierten Blick von außen.

Die futuristischen Maler, darunter Umberto Boccioni, Giacomo Balla, Gino Severini, Carlo Carrá und Luigi Russollo öffneten die Kunst für neue Formen der Wahrnehmung, und ein neues Verständnis von Zeit und Raum, gekennzeichnet von Simultaneität und Dynamik, womit sie der "tumultösen, antikünstlerischen Rauheit" (Boccioni) des urbanen Lebens Ausdruck verliehen.

Die (wenigen) Skulpturen Boccionis erweiterten das Verständnis des skulpturalen Objekts als ein Ereignis innerhalb einer zeitlichen und räumlichen Dynamik, Sehweisen, in denen sich bereits Einsteins Relativitätstheorie künstlerisch niederschlug. Luigi Russolos Manifest für die Geräuschkunst (1913) und die gemeinsam mit seinem Bruder Antonio gebauten Intonarumori - mechanische Lärmmaschinen - beindruckten Diaghilew und Strawinsky und emanzipierten das Geräusch in der zeitgenössischen Musik - mit bleibenden Reperkussionen bis heute etwa via John Cage, aber auch jüngere "Sound Artiststs" wie Scanner, Riuchi Ikeda und Carsten Nicolai.

Befreite Sprache

Marinetti selbst trug mit Gedichten wie "Zang Tumb Tumb", entstanden anlässlich der Schlacht von Adrianopel 1912, entschiedend zur "befreiten Sprache" (parole in liberta) bei und initiierte mit den futuristischen Abenden (serate) die ersten Happenings, was beides von den Dadaisten aufgegriffen wurde.

Entstanden am entscheidenden Wendepunkt der Moderne, ist der Futurismus keine Avantgardebewegung unter anderen, sondern gab das Grundmuster für spätere Avantgardebewegungen vor. Dazu zählt auch, dass die Futuristen einen Führungsanspruch für die Künstler behaupteten und durch die Synthese von neuen Wahrnehmungsweisen und neuen Technologien nicht nur die Kunst, sondern auch das Leben einschließlich der Politik neu erfinden wollten.

Wendepunkt Erster Weltkrieg

Mit genau diesem Punkt verbunden ist aber auch die unrettbare Tragik des Futurismus. Der Millionärssohn Marinetti setzte seine finanziellen und künstlerischen Mittel für den Kriegseintritt Italiens im Ersten Weltkrieg ein und lernte dabei erstmals Mussolini kennen. Nach dem Krieg war der Futurismus nicht nur personell geschwächt, Boccioni verstarb nach einem Sturz vom Pferd 1916 , auch die extreme Technikaffirmation und der Zukunftsoptimismus konnten nach den Materialschlachten des Großen Krieges nicht aufrecht gehalten werden.

Einige der besten futuristischen Maler verlegten sich auf symbolträchtigen Klassizismus. Nur Marinetti machte weiter, schrieb Manifest auf Manifest - bei nachlassender künstlerischer Qualität - und kompromittierte sich bleibend durch seine Nähe zu Mussolini, dem er 1924, nach vorübergehendem Zwist, ein "Friedensangebot" unterbreitete.

1929 wurde er Mitglied der früher so verhassten Akademie, 1942 zog er sogar noch mit dem italienischen Expeditionskorps an die Ostfront, wurde dort aber verwundet und erholte sich nicht mehr davon, sodass er 1944 verstarb.

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 20. Juli bis Donnerstag, 23. Juli 2009, 9:30 Uhr

Buch-Tipps
Eva Hesse, "Die Achse Avantgarde-Faschismus. Reflexionen über Filippo Tommaso Marinetti und Ezra Pound", Zürich: Arche, 1991

Dietrich Kämper (Hg.), "Der musikalische Futurismus", Laaber-Verlag, Köln 1999

Maurizio Calvesi, "Futurismus", München 1975

Evelyn Benesch/Ingried Brugger, "Futurismus. Radikale Avantgarde", Vice Versa, Mailand 2003

Christa Baumgarth, "Geschichte des Futurismus", Rowohlt

Link
Wikipedia - Das Futuristische Manifest