Wo die Armen Städte bauen
Prekäre Heimat
Slums sind der Preis der urbanen Neuordnung, Folgen der Landflucht. Andere sagen, ihre Ursache ist nicht das Ergebnis städtischer Armut, sondern ihres Reichtums. Zu viele wollen den Traum verwirklicht sehen, in der Großstadt ein besseres Leben zu finden.
8. April 2017, 21:58
Der Begriff "Slum" ist höchst missverständlich. Er wird viel zu leichtfertig zur Umschreibung eines Phänomens verwendet, das Europa so gut wie nicht (mehr), den Rest der Welt jedoch massiv und in täglich wachsendem Ausmaß betrifft - in einem Ausmaß jedenfalls, das in der Menschheitsgeschichte bisher unbekannt war.
Schnell wachsende Bevölkerung
Außerhalb der "Festung Europa" - in Afrika, in Südamerika, vor allem aber in Asien - schwellen Städte mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit zu Megacitys an, mit Einwohnerzahlen jenseits der zehn Millionen.
In Lagos wächst die Bevölkerung um 64 Menschen pro Stunde, die indischen Metropolen Mumbai, Delhi, Kolkata (Kalkutta) halten derzeit bei stündlich 30 bis 40 Einwandernden, südamerikanische Städte wie Sao Paulo bei 24. 1950 zählte man in Mexiko-Stadt erst 3,1 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, dieser Tage wird die 20-Millionen-Marke überschritten.
Angesichts dieser bemerkenswerten Zahlen wird klar, dass die städtischen Infrastrukturen die Menschenmassen nicht mehr aufnehmen können - jedenfalls nicht in geregelten Wohn- und Gebäudestrukturen, wie wir sie kennen, und als "normal" empfinden.
"Informelle" Siedlungen
Die Zuwandernden haben gar keine andere Chance, als Brachland zu okkupieren, wollen sie nicht buchstäblich im Regen stehen. Aus einfachen Unterkünften und Hütten entwickelten sich über die Jahre Häuser, Stadtteile, ja ganze Städte, die schließlich für Millionen zur Heimat werden - zu einer illegalen und prekären Heimat allerdings, die mancherorts stillschweigend geduldet, andernorts über Nacht brutal weggebaggert wird; die sich hier zu prosperierenden Siedlungen auswächst, dort jedoch zu Elendsquartieren und somit zu "Slums" im ursprünglichen Sinn des Begriffs entwickelt.
Jeder sechste Mensch auf diesem Globus lebt mittlerweile in einer dieser, jede für sich jedoch höchst unterschiedlichen, "informellen Siedlungen", die wir aus der Höhe unseres vergleichsweise europäischen Reichtums leichtfertig allesamt als "Slums" bezeichnen, obwohl sie nicht selten lebendige, bestens organisierte Strukturen darstellen.
Bis zum Jahr 2075, so Schätzungen der UNO, wird es bereits jeder Dritte sein. Die indischen Johpadatti-Bewohner, die Favelistas Brasiliens, die Leute der Kijijis Kenias, die Siedler der Barriadas von Peru - sie alle bauen Stein für Stein, Ziegel für Ziegel, Pfosten für Pfosten an ihren eigenen, den tatsächlich mächtigsten Städten der Zukunft. Dieser Prozess kann gegebenenfalls gezielt gesteuert und sinnvoll unterstützt, niemals aber aufgehalten werden.
Bessere Verdienstmöglichkeiten in den Städten
Warum es die Menschen in die Städte zieht, liegt auf der Hand: Sie kommen, weil sie ihren Lebensunterhalt auf dem Land nicht mehr verdienen können. Der Leiter des Urban-Age-Programms der London School of Economics, Richard Burdett, sagt dazu: "Städte waren immer ökonomische Kraftwerke, das war bereits im alten Griechenland so.
Dieser Trend hat sich in den vergangenen 30 Jahren jedoch multipliziert. Ein junger Mann, der im Verkehrsgewühl von Sao Paulo Zigaretten oder Plastikspielzeug verkauft, verdient dort wesentlich mehr als in der ruralen Wirtschaft auf dem Land. Das Feld seiner Eltern kann ihm kein adäquates Einkommen mehr bieten. Das gilt verstärkt für Afrika und auch für Südostasien. Selbst wer in Mumbai Müll sammelt, hat eine sicherere finanzielle Zukunft als auf dem Land."
Funktionierende Infrastruktur in den Favelas
Passiert der Prozess der Zuwanderung zwar allerorten aus demselben Antrieb, so sind die "informellen Siedlungen" kaum vergleichbar. Die Rocinha zum Beispiel, mit 56.000 Einwohnerinnen und Einwohnern die größte Favela von Rio de Janeiro, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem prosperierenden Stadtteil auf den steilen Hügeln über der "offiziellen" Stadt entwickelt.
Noch vor 30 Jahren war sie ein Elendsquartier, eine Ansammlung ärmlicher Hütten. Heute verfügt die Favela großteils über eine funktionierende Infrastruktur, ein eigenes Postsystem, einen Fernsehsender, ein lebendiges Handels- und Marktleben, und - wie viele ihrer Bewohnerinnen und Bewohner sagen - über eine freie, optimistische Lebenskultur, wie man sie unten in Copacabana, Ipanema und Leblon nicht mehr findet.
Aber das Verbrechen, die Drogengangs, die Bandidos seien doch in den Favelas zu Hause, möchte man einwenden. Doch schenkt man brasilianischen Kriminologen Glauben, ist weniger als ein Prozent der Bevölkerung der Favelas in derlei Verbrechen involviert. Die Bewohner selbst, die naturgemäß alle Spielregeln der Koexistenz mit dem Verbrechen und der Illegalität kennen, geben die Favelas tatsächlich als sicherere Orte an als die Prachtmeilen Rios, wo täglich überfallen und geraubt wird.
Kleinbetriebe in Mumbais Dharavi
Ähnliches lässt sich über den größten "Slum" Asiens feststellen: Dharavi in Mumbai ist ein unbeschreiblich dichtes, enges Gewirr aus Gassen, Häusern, Stiegen, Müllhalden, Werkstätten, in dem je nach Schätzung zwischen 400.000 und 600.000 Menschen leben - und arbeiten. Die unzähligen Klein- und Kleinstbetriebe Dharavis - Nähstuben, Tischlereien, Abfallverwertungen - setzen eine geschätzte Million US-Dollar pro Tag um.
Die ersten Siedler von Dharavi haben vor über 100 Jahren Sumpfland urbar gemacht, das außerhalb der Stadt lag. Mittlerweile ist Mumbai jedoch um diese Enklave herumgewachsen, und Immobilienspekulanten beäugen das rund zwei Quadratkilometer große Areal mit großer Begehrlichkeit. "Wir haben diese Stadt gebaut", sagt Waquar Khan, der einen florierenden Textilbetrieb in Dharavi unterhält: "Wir sind hier zu Hause. Wenn sie uns vertreiben wollen, um Bürotürme und Cricket-Stadien zu bauen, wird es einen blutigen Krieg geben."
Die Favelistas von Rio haben bessere Karten: Sie haben sich auf den unwegsamen, für Immobiliendeveloper uninteressanten Berghängen angesiedelt und werden von den Real-Estate-Haien in Ruhe gelassen.
Unterdrückung der Ärmsten in Afrika
Eine gänzlich andere Situation findet man in vielen Teilen Afrikas. In Nairobi beispielsweise nährt sich die herrschende Kaste großteils nachgerade von den Armen und unterhält ein System von Bestechung, Korruption und gezielter Unterdrückung, das eine Entwicklung der Elendsquartiere aus eigener Kraft unmöglich macht.
Siedlungen wie Kibera, in der eine halbe Million Menschen unter widrigsten Bedingungen, ohne Kanalisation und ohne einen einzigen Arzt leben, sind letztlich die Cash-Cows für diejenigen, die an der Macht sind. Wer seine gemietete Lehmhütte reparieren will, muss erst einmal "kitu kidogo" - "etwas Kleines", das Bestechungsgeld für die Genehmigung, bezahlen.
Unterstützung von der Stadt in Bogotá
Gerade in der kollektiven Anstrengung der informellen Siedler, ihre Lebenswelt kontinuierlich aus eigener Kraft zu verbessern, liegt jedoch das größte Potenzial. Kommunen wie etwa Bogotá, mit 6,8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern eine der am schnellsten wachsenden Städte Südamerikas, haben das erkannt. Dort wurden vorsorglich große, unbebaute Areale mit einem Wegenetz strukturiert, das wie ein Venensystem die zu erwartenden neuen Stadtteile versorgt. Die Stadt baute mit besten Architekten an strategischen Stellen Schulen, Veranstaltungs- und Sporthallen, sorgte für Wasser, Strom, Kanal, öffentlichen Verkehr und überließ den Rest den Siedlerinnen und Siedler.
Der Begriff "Slum" ist eine europäische Erfindung des frühen 19. Jahrhunderts, als Metropolen wie Paris und London ähnliche Prozesse durchliefen, wie die Megacitys Asiens, Afrikas, Südamerikas heute. Der Unterschied ist der: Damals lebte auf der Welt rund eine Milliarde Menschen, heute sind es rund 6,3 Milliarden. Bis 2050 werden es 9,1 Milliarden sein.
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Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 23. Jänner 2010, 17:05 Uhr
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Für diese Sendung erhält der Gestalter, Peter Waldenberger den Radiopreis der Erwachsenenbildung.