Die Schaltzentrale des globalen Finanzmarkts

Eat What You Kill

Gier ist an der Wall Street keine Sünde. In der Schaltzentrale des globalen Finanzmarktes gilt: "Eat what you kill: Der Gewinn gehört dem Spekulanten." Die Devise stammt aus dem Jagdjargon und bedeutet: Man soll nur töten, was man auch essen kann.

An jener Stelle, an der George Washington 1789 als erster Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt wurde, stehen zwei bis auf die Zähne bewaffnete Polizisten. Sie sind eines der begehrtesten Fotoobjekte der Wall Street. Wie für einen typischen Manhattan-Filmset gecastet, stehen die beiden breitbeinig vor ihrem Jeep, rund um sie steigt weißer, heißer Dampf aus dem U-Bahn-Schacht, neben ihnen zerschmilzt langsam ein orange-weiß-gestreiftes Straßenhütchen.

Die New Yorker Börse ihnen gegenüber ist von eisernen Absperrungsgittern umgeben, an denen weitere Polizisten Wache halten und das stete Fließen des Touristenstroms ins Stocken bringen. Baulärm bestimmt den Financial District, ein Sounddesign, das vom "Ground Zero" stammt und sich aus dem Rattern von Schlagbohrern, dem Quietschen von Schaufeln auf Erde, dem Zischen der Lüftungsschächte zusammensetzt.

Günstige Therapie

In dieser unwirtlichen Gegend suche ich arbeitslose Wall-Street-Banker und -Bankerinnen, denn der Leiter der Radiostation "WCBS Newsradio 880" hat mir, nach rund zwei Dutzend Absagen, empfohlen, meine Interviewpartner und -partnerinnen auf der Straße aufzuspüren ("Rede in irgendeiner Starbucks-Filiale einen Typen im Designeranzug an"). Er zeigte sich überzeugt, dass sich rund um die Wall Street frisch entlassene Bankerinnen und Banker tummeln, die gerne mit einer österreichischen Radiojournalistin über Arbeitsstil und Bezahlung in der US-amerikanischen Finanzindustrie plaudern und die Schuldfrage der Finanzkrise diskutieren.

Doch Wall-Street-Bankerinnen und -Banker - auch arbeitslose - nutzen ihre Zeit kosteneffizient. Und sei es, dass ich ihnen den Gang zum Therapeuten erspare: Als Therapiesitzungen empfindet die 35-jährige Joanna, die vor zwei Jahren ihren Job an der Wall Street verloren hat, unsere Interviews. "Ich kann bei dir Dampf ablassen. Einem Therapeuten müsste ich 300 Dollar pro Stunde dafür bezahlen." Wider Erwarten habe ich Joanna nicht in einer Starbucks-Filiale kennengelernt.

Mit 25 Millionär

Szenenwechsel: Fünf Minuten Gehweg von der Börse entfernt gibt es eine öffentlich zugängliche Halle mit kleinen Grünflächen, Tischen und Stühlen. Obdachlose liegen auf den Bänken, andere spielen Schach und Backgammon. Dazwischen sitzen junge Männer in Designeranzügen und hauen auf die Tastaturen ihrer Notebooks ein. Hier finde ich das Gegenteil von dem, was ich suche: einen 21-Jährigen, der vor fünf Monaten als Händler an der Börse angeheuert wurde. Michael - seinen Nachnamen verrät er mir nicht - hat ein klares Ziel vor Augen: Mit 25 möchte er Millionär sein.

Während mich Michael über den Unterschied zwischen Zielen und Träumen aufklärt, mir von Büchern wie "The Laws of Leadership" erzählt, mir erklärt, dass er Geld einer funktionierenden Liebesbeziehung allemal vorzieht, kontrolliert er ständig seinen Blackberry, streift sich mit der Hand über die Nase, zappelt mit den Beinen.

"Eat what you kill" lautet die Devise an der Wall Street. Sie bedeutet: Der Gewinn an einer Transaktion gehört den Spekulantinnen und Spekulanten. Laut einem Bericht des "Wall Street Journal" belaufen sich die Bonuszahlungen an der Wall Street im Jahr 2009 auf das Rekordhoch von 140 Milliarden US-Dollar, um zehn Milliarden Dollar mehr als 2007, kurz vor dem Crash.

Michael trägt eine Zahnspange, doch die Devise "Eat what you kill" steht ihm ins Gesicht geschrieben.

Im Schockzustand

Als Lehman Brothers im September 2008 über Nacht Konkurs anmeldet, verlieren innerhalb weniger Tage fast 25.000 Menschen ihren Job. Michael Fuld, ehemaliger Lehman-Brothers-Geschäftsführer, wird vor dem US-amerikanischen Kongress gefragt, ob er es für gerechtfertigt halte, dass er Millionen an Bonuszahlungen behalten darf, während die Aktionäre und Aktionärinnen von Lehman alles verlieren. "Is this fair?", lautet die Frage. Fuld bleibt eine Antwort schuldig. Bis heute sind zwischen 150.000 und 200.000 Stellen an der Wall Street, also in der US-amerikanischen Finanzindustrie, gestrichen worden.

Was machen die Arbeitslosen? Mein vordergründiges Problem aber: Wo sind sie zu finden? Ein Nachrichtenredakteur von "WCBS Newsradio 880" will gehört haben, dass der Segelclub im Financial District seit Beginn der Finanzkrise enormen Zulauf erfahren hat und empfiehlt mir einen Besuch. Dieser fällt - oh Wunder - noch erfolgloser aus als meine Streifzüge durch die Wall Street.

"Die meisten befinden sich in einem Schockzustand und wollen nicht reden. Oder es ist ihnen vertraglich verboten, zu reden", sagt mir ein Manager der Bank of America. Allerdings vermittelt er mir einen erfahrenen Investmentbanker, den er selbst zwei Monate zuvor aus seinem Team entlassen hat. John Stoltzfus, 50 Jahre alt, ehemals leitender Marktstratege der Bank of America, der vor seiner Wall-Street-Karriere Profigitarrist war, ist einer von insgesamt sechs gekündigten Bankerinnen und Bankern, die mich in das Universum der weltweit größten Finanzindustrie einführen.

Die scheinbar undurchschaubaren Mechanismen, die zur Finanzkrise geführt haben, werden bei John sehr verständlich: "Die größten Finanzinstitutionen haben Kredite vergeben, wie man nur seinen eigenen Kindern Geld borgen sollte. Von deinen Kindern erwartest du dir kein Geld zurück. Wenn du es doch bekommst, freust du dich so sehr, dass du ihnen noch mehr gibst."

Hör-Tipp
Hörbilder, Samstag, 16. Jänner 2010, 9:05 Uhr