Chronik Frankreichs der 1930er
Lied vom Hunger
Mit scharfem Blick gelingt es Nobelpreisträger Le Clézio, die Atmosphäre der 1930er Jahre in Frankreich einzufangen: die allgemeine Unsicherheit angesichts des erstarkenden Nazi-Regimes in Deutschland, die Furcht vor einem neuen Krieg und den Hunger.
8. April 2017, 21:58
Ich weiß, was Hunger ist, ich habe ihn gespürt. Als Kind bin ich bei Kriegsende auf der Straße mit all den anderen neben den Lastwagen der Amerikaner hergelaufen und habe die Hände ausgestreckt, um die Kaugummipäckchen, die Schokolade und die Brotrationen aufzufangen, die die Soldaten uns zuwarfen. Als Kind hatte ich eine solche Gier auf Fett, dass ich das Öl aus den Sardinendosen getrunken und mit Genuss den Löffel Lebertran hinuntergeschluckt habe, den mir meine Großmutter zur Stärkung gab. Ich hatte ein solches Bedürfnis nach Salz, dass ich oft in der Küche eine Handvoll grauer Salzkristalle aus dem Glas gegessen habe.
So beginnt der neue Roman des Literaturnobelpreisträgers Jean-Marie Gustave Le Clézio, ein Roman, der nicht umsonst den Titel "Lied vom Hunger" trägt. Denn um Hunger geht es, um den Hunger nach Nahrung, aber auch den Hunger nach Gerechtigkeit und Glück.
Worte wie Gift
Le Clézios Heldin Ethel wächst in den 1930er Jahren in Paris auf. Ihre Familie stammt von der Insel Mauritius: ihr Vater Alexandre, der von einer anarchistischen Revolution träumt, aber tatsächlich nur das Familienvermögen verschleudert und auch nicht davor zurückschreckt, ein Grundstück, das Ethel von ihrem Großonkel geerbt hat, an sich zu reißen, um dort ein Mietshaus zu bauen, ihre Mutter Justine, die unter Alexandres Untreue leidet, sowie zahlreiche Tanten und Onkel, die sich jeden Sonntag im Salon versammeln, um über Politik, Wirtschaft und die neuesten technischen Errungenschaften vor allem in der Luftfahrt zu plaudern.
Diese sonntäglichen Gesprächsrunden, die Ethel in einem Notizbuch festhält, bleiben ein fixer Bestandteil des familiären Lebens, auch als Alexandre bereits dem finanziellen Ruin zusteuert.
Je weiter es mit ihrer Familie abwärtsging, desto öfter kamen Ethel wieder diese lärmenden Stimmen in den Sinn, diese absurden, überflüssigen Gespräche, diese ätzende Säure, die den Fluss der Worte begleitete, als verbreiteten diese banalen Worte von Nachmittag zu Nachmittag so etwas wie Gift, das alles ringsumher anfraß, die Gesichter, die Herzen und sogar die Tapeten der Wohnung.
Zunehmender Antisemitismus
Mit scharfem Blick gelingt es Le Clézio, die Atmosphäre der 1930er Jahre in Frankreich einzufangen: die allgemeine Unsicherheit angesichts des erstarkenden Nazi-Regimes in Deutschland und die Furcht vor einem neuen Krieg. In Alexandres Salon werden die Töne nach und nach radikaler, nationalistischer und antisemitischer.
Alexandre erschreckt seine zehnjährige Tochter eines Tages mit einer Judenmaske und Ethel begreift erst später die eigentliche Bedeutung dieses Vorfalls.
Die Maske existierte noch immer, es war eine Serienproduktion, und die Leute, die sie zum Lachen brachte, hatten sich nicht geändert. Die Maske starrte weiterhin mit leeren Augen und einem Schlapphut aus dem Halbdunkel, unauslöschlich, unvermeidbar. Später wurde Ethel bewusst, dass nichts vergessen war. Sie war zu empfindsam, das war alles. Sie war ein Einzelkind in einer bedrohten Familie, in der es viel Streit gab. Sie hatte nicht viel Humor, wie Alexandre gesagt hätte. Beim geringsten Anlass geriet sie außer sich.
Unerbittlicher Hunger
Als Heranwachsende erkennt Ethel, dass sie die Verantwortung für ihre Familie übernehmen muss - und sie stellt sich dieser Aufgabe unerschrocken und tatkräftig. Sie versucht, die finanzielle Misere, in die Alexandre sie gebracht hat, zu regeln, und als die Deutschen in Paris einmarschieren, flieht die 20-Jährige mit ihren verängstigten Eltern nach Nizza. Aber auch dort wird die Lage immer angespannter, der Krieg erreicht Südfrankreich und Ethel begegnet dem Hunger in seiner unerbittlichsten Form.
Auf den Marktständen wurde nichts, fast nichts mehr angeboten. Die gleichen Schatten irrten weiterhin durch die Gänge, aber jetzt wurden sogar die Obstschalen und die verschimmelten Wurzeln verkauft. In den Parks fraßen sich streunende Katzen gegenseitig auf. Die Tauben waren verschwunden und die Fallen, die Justine in der Regenrinne aufgestellt hatte, zogen nur noch Ratten an.
Hommage an die Mutter
All dies schildert Le Clézio aus einer seltsam distanzierten, fast teilnahmslosen Perspektive. Er bezieht keine Stellung, bleibt Chronist der Ereignisse, ohne sich selbst zu positionieren. Beinahe skizzenhaft reiht er die einzelnen Szenen aneinander, die Flucht aus Paris, das elende Leben in Nizza, schließlich Ethels Entschluss, mit ihrem Verlobten Laurent nach Kanada zu gehen, um dem Krieg und vor allem dem Hunger zu entkommen.
Es ist keine außergewöhnliche Geschichte, die Le Clézio erzählt, vielmehr eine Geschichte, die sich so oder ähnlich wohl hundertfach abgespielt hat und mit der er Tausenden vom Krieg betroffenen Franzosen ein Gesicht verleiht - das Gesicht seiner Mutter, denn sie ist es, die den Autor zu seiner Hauptfigur inspirierte. Ethel ist eine unspektakuläre Heldin, die den Notwendigkeiten ihrer Zeit mit Mut und Tatkraft begegnet, so wie viele andere Menschen, die in jenen Tagen ungewollt zu Helden wurden - und die danach mit den Geschehnissen fertig werden mussten.
Symphonie in Moll
Vielleicht hat es gar keinen Krieg gegeben, dachte Ethel. Wie für sie und ihre Familie, die über die Straßen geirrt waren und sich dann im Gebirge versteckt hatten. Sondern nur Verbrechen, Verbrechen und Verbrecher, Banden, die übers Land zogen, um zu plündern, zu töten und zu vergewaltigen. Sie hatte Laurent nichts von dem Hunger erzählt, der jeden Tag im Magen rumorte, von den alten Leuten, die sich um die Abfälle zwischen den Marktständen gestritten hatten, von der Cote d'Azur und den Tälern im Hinterland, in denen das Leben langsamer verlief, von den Fliegenschwärmen, die sich auf Justines Bein gestürzt hatten. All das ließ sich nicht leicht erzählen. Das war in einer anderen Welt geschehen.
So ist das "Lied vom Hunger" eine große Symphonie in Moll geworden, die von Verlust, Demütigungen und zerschlagenen Hoffnungen erzählt - aber auch von einer bemerkenswerten jungen Frau, die sich all dem widersetzte und den Lebensmut nicht verlor. Mit seiner zurückhaltenden, fast lakonischen Prosa hat Le Clézio nicht nur seiner Mutter ein eindrucksvolles Denkmal gesetzt, sondern auch die Vergangenheit aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel untersucht: ohne Weinerlichkeit und ohne Pathos, dafür mit scharfer Beobachtungsgabe und viel Einfühlungsvermögen.
Service
J. M. G. Le Clézio, "Lied vom Hunger", aus dem Französischen übersetzt von Uli Wittmann, Verlag Kiepenheuer & Witsch
Kiepenheuer & Witsch - J. M. G. Le Clézio