Alva Noto, Ryuichi Sakamoto und Ensemble Modern

Klingendes Mannheim

Das gemeinsame Projekt "utp_" zeigt eindrucksvoll Wege auf, wie Musikerinnen und Musiker zum einen aus der elektronischen Clubkultur und zum anderen aus dem Bereich der zeitgenössischen Klassik konstruktiv zusammenspielen können.

Es war Rainer Kern, der künstlerische Leiter des Ensembles Modern, der die ursprüngliche Idee zu dieser Kooperation hatte, nachdem er in London die Live-Präsentation von Carsten Nicolais und Ryuichi Sakamotos gemeinsamen Album "insen" gesehen hatte. "insen" war nach "viroon" die bereits zweite gemeinsame Veröffentlichung auf Nicolais Label raster-noton, und rückblickend betrachtet hat die gemeinsame Arbeit der beiden Musiker zunehmend an Komplexität gewonnen, haben sich diese beiden so markanten Klangsprachen immer mehr ineinander verstrickt.

Von "viroon"…

Im Vergleich zu "insen" war "viroon" noch verhältnismäßig einfach konzipiert, Carsten Nicolai balancierte Ryuichi Sakamotos schwere Klavierakkorde durch das Hinzufügen eines fein gesponnenen Rhythmusgeflecht aus, angefertigt aus Sinustönen. Eine relativ simple musikalische Herangehensweise also, simpel, aber durchaus magisch in der Wirkung. Bereits damals gelang es Nicolai die Musik von Sakamoto förmlich zum Schweben zu bringen.

… zu "insen"

Bei der Arbeit am zweiten Album "insen" legte Carsten Nicolai dann an Sakamotos Musik direkt Hand an. Er nahm dessen Klavieraufnahmen mit Hilfe seines digitalen Seziermessers fein säuberlich auseinander, um schließlich daraus eine Reihe von Klangatomen und Mikro-Loops zu schaffen, die daraufhin das musikalische Ausgangsmaterial für jene Klanggeflechte bildeten, die Nicolai Sakamotos Klavierakkorden diesmal entgegensetzte.

Wiederum nahm er sein Publikum dabei mit hinauf in luftige Höhen, während die beiden Klangsprachen nun zu einer einzigen zusammenzuschmelzen begangen. Mit dem Ensemble Modern ist jetzt noch eine weitere Klangdimension hinzugekommen.

utp_

Das gemeinsame Musikprojekt "utp_" von Alva Noto aka Carsten Nicolai, Ryuichi Sakamoto und dem Ensemble Modern ist unlängst nun ebenfalls auf Nicolais Label raster-noton erschienen, und zwar als CD und auch als DVD, die in 5.1 abgespielt werden kann, und auf der man weiters nicht nur die begleitende Videoperformance sondern auch einen rund halbstündigen Film von Carsten Gebhardt über das "Making of" sehen kann.

Try out

Zu Beginn galt es zuerst einmal grundlegende Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, erzählt Dietmar Wiesner darin, denn sie seien ja kein herkömmliches Ensemble: "Wo ein Kompositionsauftrag gegeben wird, dann gibt man das sechs bis acht Wochen vorher ab, danach gibt es drei Proben u. daraufhin wird das Stück aufgeführt. Speziell bei solchen Projekten, wo es um eine Art Gedankenaustausch geht, haben wir ursprünglich auf Anregung von Heiner Göbbels hin die Institution "try out" eingeführt. So hat der Komponist die Möglichkeit von jedem einzelnen Spieler die individuelle Spielweise und die Vorlieben kennenzulernen, damit es dann eine sehr persönliche Komposition werden kann. Wir haben das bereits mit eben Heiner Göbbels und weiters Fred Frith, Frank Zappa und Ornette Coleman gemacht."

Und Rainer Römer ergänzt: "Man muss die Art und Weise verstehen, in der sich sowohl Carsten Nicolai als auch Ryuichi Sakamoto äußern und vermitteln, und da eine Sprache finden, die über das hinausgeht, was eine ausgeschriebene Partitur jetzt einmal so vermitteln würde. Das ist sehr wichtig! Hierin besteht die Chance, dass so ein Projekt authentisch werden kann."

Über die eigenen Grenzen hinaus
Für sie hätte "try out" aber auch bedeutet, herauszufinden, etwa inwieweit die Musikerinnen und Musiker vom Ensemble Modern zu improvisieren bereit waren, so Carsten Nicolai. Ein ganz wichtiger Punkt sei auch gewesen, in Erfahrung zu bringen, wie mit Rhythmus umgegangen werden kann, denn gerade dies würde klassisch ausgebildeten Musikerinnen und Musikern ja oft schwer fallen. Die Mitglieder des Ensembles Modern haben sich dem hier drohenden musikalischen Kulturkonflikt jedenfalls gestellt. Ein schönes und aufregendes Unterfangen, wie Rainer Römer berichtet, das sie auch immer wieder auf unsicheres Terrain geführt und dazu gezwungen hat, über die eigenen Grenzen zu gehen, über sich selber hinauszuwachsen.

Stadtplan als Anhaltspunkt
Entstanden ist das gemeinsame Projekt auf Einladung der Stadt Mannheim für ein Konzert zum 400-jährigen Stadtjubiläum. Bei der Erarbeitung des Konzeptes setzten sich Carsten Nicolai und Ryuichi Sakamoto zum einen mit den Innovationen der Mannheimer Schule um 1750 auseinander, konkret mit dem Wechsel von einer horizontalen zu einer mehr vertikal orientierten Kompositionsstruktur, also vom barocken Kontrapunkt zur klassischen Harmonie, und sie setzten sich weiters mit der zunehmenden Erweiterung der dynamischen Stufen auseinander. Als Anhaltspunkt diente dabei der Stadtplan von Mannheim. Mannheim wurde also vor nun ein bisschen mehr als 400 Jahren zuerst geplant und dann nach diesem Plan gebaut, als Manifestierung eines Idealtypus. Diesen strengen Raster haben Nicolai und Sakamoto in eine Zeitabfolge übertragen.

Die Elektronik sei integral, so Carsten Nicolai, und auch wenn es mehr ein klassisches Musikstück ist, als eines der elektronischen Clubmusik im weitesten Sinne, so wurde es doch wie ein solches produziert. Und Ryuichi Sakamoto erklärt dann noch einmal auf das vorhin Gesagte zurückkommend weiter aus: Zuerst hätte es also eine Vielzahl von Aufnahmen gegeben, dann wurde ein Modell geschaffen, und aufbauend auf diesem schrieb er schließlich die Partitur.

Neuer Zugang
Es sei sehr spannend und wohltuend gewesen, so Johannes Schwarz vom Ensemble Modern abschließend, zur Abwechslung einmal mit jemandem zusammenzuarbeiten, der wie eben Carsten Nicolai ganz stark konzeptionell an die Arbeit herangeht.

Johannes Schwarz: "Viele Komponisten zeitgenössischer Klassik sind in ihrer Vorstellungskraft, wie man mit Instrumenten umzugehen hat und was man einem Instrument zumuten darf und kann oftmals eingeengt. Außerdem, und auch das fand ich ungemein wohltuend, sind Carsten Nicolai und Ryuichi Sakamoto absolute Perfektionisten mit ihrem technischen Equipement. So einen guten, intensiven und kreativen Prozess mit technischem Equipement herzustellen, wie die beiden es geschafft haben mit uns zusammen, das erleben wir nicht oft. Also das Komponisten oder Sounddesigner mit uns zusammenarbeiten, das machen wir ja schon öfter, aber da stoßen wir oftmals an kreative Grenzen die mit den Grenzen der Technik auch zu tun haben und das ist bei den beiden eindeutig nicht der Fall."

Hör-Tipp
Zeit-Ton, Mittwoch, 12. August 2009, 23:03 Uhr

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