Wider den Kontrollwahn

Deutschland und die Kontrollneurose

Im aktuellen Wahlkampf zur Bundestagswahl 2009 etabliert sich in Deutschland gerade eine neue Partei. Kein Scherz: Sie nennen sich "Piraten". Ihr Programm: die Freiheit jener Meere, die sonst unter der Bezeichnung "Internet" firmieren.

In Deutschland ist Wahlkampf, am 27. September 2009 wird der Bundestag neu gekürt. Das ist auch für die Österreicher nicht uninteressant - haben wir doch die fatale Neigung, jeden Unsinn nachzumachen, den uns die Deutschen vormachen. Abgemildert allenfalls durch die sprichwörtliche hiesige Schlamperei: Meist wird bei uns nicht ganz so heiß gegessen, wie die Deutschen politisch kochen. Die Zutaten des Menüs sind aber selten besser, und das schon seit Jahrhunderten.

Erstaunlich: Stark geprägt ist der Bundestagswahlkampf 2009 durch eine neue Gruppierung, die sich "Piratenpartei" nennt, und die seit einigen Monaten beträchtlichen Zulauf verzeichnet. Man hält es angesichts der Ordnungsliebe der Deutschen im Allgemeinen und ihrer Politiker im Speziellen ja kaum für möglich. Alleine schon der Name: "Piraten". Dergleichen kann in Deutschland eigentlich nicht vorkommen. So was kann's in Italien geben, naturgemäß, auch in Frankreich, dann noch bei den Schweden oder Dänen. Da ist man Scherze gewohnt. Aber doch nicht in Deutschland, dieser Staat gewordenen Antipode zu aller politischen Spaßkultur.

Und doch: Die Mitgliederzahlen der Piraten haben sich in den letzten drei Monaten mehr als verzehnfacht, mittlerweile stehen die Chancen gut, dass sie ins Parlament einziehen.

Die deutsche Politik hat's in ihrem Überwachungs- und Kontrollwahn übertrieben, wie's aussieht. Wir erinnern uns: Da gab's die Vorratsdatenspeicherung, die vollständigen Erfassung und Archivierung aller Telekommunikations-Daten aller Deutschen, also aller ihrer Telefon-, E-Mail-, Internetverbindungen. Die "Hackerparagrafen" gegen das, was man in Germanien als "Schmutz im Internet" identifiziert hat, und das nach Ansicht deutscher Politiker nicht nur das geordnete Zusammenleben, sondern die Zivilisation schlechthin bedroht. Außerhalb Deutschlands hat man von diesem Schmutz nicht gar so viel bemerkt, aber bei Schmutz kennen die Deutschen eben kein Pardon.

Dann die ständige Verschärfung des Urheberrechts samt "Auskunftsanspruch" und manchem mehr, um auch noch die letzte nicht linzensierten Kopie aus deutschen Teenagerzimmern zu verbannen; dies garniert mit Schadensersatz-Quoten, an denen diese Teenager noch bis ins Rentenalter zahlen werden. Weiters Mitstörerhaftung, Providerhaftung, Forenbetreiberhaftung: In demokratisch verfassten Gegenden gilt aus guten Gründen meist die Regel, dass Betreiber von Kommunikationsdiensten nicht für die Untaten ihrer Nutzer verantwortlich zu machen sind. Also beispielsweise kann eine Telefonfirma nicht dafür belangt werden, wenn Verbrecher am Telefon Verbrechen besprechen. In Deutschland ist das im Internet längst nicht mehr so.

Auch der Jugendschutz gibt einiges an Regulierungen und Verboten her, immer im Sinne der "guten Sache". Die Ächtung sogenannter "Gewaltspiele" geht bald so weit, dass demnächst auch das ehrwürdige Schachspiel darunter fallen wird: Dort werden ja auch Bauern aus dem Feld geschlagen. Brutal.

Und manches mehr. Man kann sich hierzulande kaum vorstellen, was alles in Sachen Internet und Kommunikation in Deutschland mittlerweile verboten ist, überwacht, kontrolliert und belauscht, und mit der gebührenden Strenge des Gesetzes geahndet wird. Und das ohne erkennbaren Widerstand der geplagten Bevölkerung.

Doch vielleicht gibt's sogar in Deutschland den oft zitierten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt: Vermutlich brauchte man ein Wahlkampfthema, und man verfiel, da Terrorismus, Jugendschutz, Raubkopien, Glücksspiel, Gewaltspiele, Internetbetrug allesamt verbraucht waren, auf Kinderpornografie, kurz KiPo genannt. In mehreren rasch einberufenen Pressekonferenzen lancierte die Familienministerin die Botschaft, dass das Internet von KiPo geradezu übergehe: Kaum besurft man eine beliebige Web-Site - schon wird man mit KiPo förmlich zugeschüttet, so ihre Botschaft. Die Ministerin war sich offenbar sicher, dass das zieht: Vergewaltigte und sadistisch misshandelte Kinder sind in der Tat nicht leicht zu ertragen.

So wurde ein "Zugangserschwerungsgesetz" gebastelt. Es wird die Kinderpornografie im Internet zwar um nichts reduzieren, so die übereinstimmende Expertise aller Fachleute, da technisch untauglich. Ein Placebo-Gesetz, soweit es KiPo betrifft. Doch das Gesetz etabliert nach all den vorangegangenen Überwachungs-, Belauschungs- und Kontrollmaßnahmen nun auch die Sperre von Inhalten. Somit das, was man "Zensur" nennt.

Und das, obwohl im deutschen Grundgesetz der schlichte Satz steht: "Zensur findet nicht statt." Das Gesetz wird nach Ansicht der meisten Juristen vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe daher nicht bestehen können - da lohnt sich dann wieder die deutsche Genauigkeit.

Immerhin, vorerst ist mal etwas getan, so das Kalkül. Doch vielleicht war es das eine Law-and-Order-Gesetz zu viel, sogar für deutsche Gemüter: Seither spielt plötzlich jene neue Partei im politischen Wettbewerb mit, die sich als einziges Anliegen die Verteidigung der Grund- und Freiheitsrechte im Kommunikationszeitalter auf die Piratenfahne geschrieben hat. "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Freiheit klaut", skandieren die Freibeuter auf "politischen Picknicks" - kulinarischen Veranstaltungen, mit denen die politischen Traditionalisten auch nicht viel anzufangen wissen. Dass die Piraten im Internet, in Foren, Blogs und Chats allgegenwärtig sind, muss man nicht dazu sagen.

Was dabei heraus kommt, wird man am 27. September sehen. Spannend wird's allemal. Und vielleicht ist das Ganze den Unserigen, die manchmal ja auch vom Überwachungsbazillus ein wenig infiziert zu sein scheinen, eine Warnung.

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Links
Piratenpartei Deutschland
Der Spiegel - Piratenpartei greift offline an