Das "kerlige" Aschenbrödel: Vivica Genaux
Mezzosopranistinnen
Drei Mezzosopranistinnen von heute, drei unterschiedliche Definitionen des Stimmfaches "Mezzosopran": Vivica Genaux, Magdalena Kozena, Anne Sofie von Otter - zwischen Rossinis prangenden Contralto-Partien, elegischem Vivaldi und "acting with the voice".
8. April 2017, 21:58
Marilyn Horne hat es geschafft, dass ein Begriff aus dem lesbischen Szene-Vokabular auch von diversen Stimmen-"Päpsten" dies- und jenseits des Atlantiks mutig in den Mund genommen wird: "butch". So maskulin-"kerlig" wie der sprichwörtliche "kesse Vater" konnte Marilyn Horne in ihren Opern-Hosenrollen - und nicht nur in diesen! - klingen. Einer der größten italienischen Tenöre des 20.Jahrhunderts wiederum, Giacomo Lauri Volpi, hat einst als Buchautor mit vielen Belegen die Theorie der "voci parallele" aufgebracht, derzufolge es in unterschiedlichen Generationen von Fall zu Fall zu vokalen "Reinkarnationen" kommen kann.
Beispiel: Eine Sopranistin der 1960er Jahre, deren Singen dem ihrer gefeierten Kollegin von vier Jahrzehnten davor zwar nicht zum Verwechseln, aber doch in vielen charakteristischen Details gleicht. Je weiter ihre Karriere sich entwickelt, desto mehr wird auch die aus Alaska stammende Mezzosopranistin Vivica Genaux die "voce parallela" von Marilyn Horne: Derart "butch", um beim Terminus zu bleiben, wie sie ist ein Aschenbrödel - Angelina in Rossinis "La cenerentola" - schon lange nicht aufgetreten wie Vivica Genaux vor wenigen Wochen bei ihrem Debüt im Rahmen der Londoner BBC Proms. Auch als Malcolm, der Contralto-Rolle in Gioachino Rossinis Seria-Oper "La donna del lago", brachte sie die "promenaders" im Riesenrund der Royal Albert Hall zum Rasen - in den 1970er, 80er Jahren war das eine Partie, in der Marilyn Horne brillierte.
Im Zwischenreich zwischen "weiblich" und "männlich"
Virtuoser Koloraturgesang ist die Domäne von Vivica Genaux - eine Carmen, eine Santuzza ist sie nicht, wird sie nie werden. Mit René Jacobs am Pult war sie bei den Innsbrucker Festwochen Händels "Rinaldo", gemeinsam mit ihm hat sie eine hinreißende CD mit Zugstücken aus dem Repertoire des Starkastraten Farinelli eingespielt, die den androgynen Reiz einer im Zwischenreich zwischen "weiblichem" und "männlichem" Klang angesiedelten Stimme wiederauferstehen lässt.
Die "Vivaldi-Renaissance" der letzten Jahre, losgetreten durch Cecilia Bartoli, wäre um eine spektakuläre Facette ärmer, hätte Vivica Genaux nicht in den vielen Aufführungen des "Bajazet" mit Fabio Biondi als Irene einen barocken "show-stopper" par excellence eingelegt. Auch bei Biondis Ausgrabung des Vivaldi'schen "Ercole sul Termodonte" war sie mit von der Partie. Puristen, die kehlig-gutturales Singen nicht aushalten, müssen von Vivica Genaux' Aufnahmen die Finger lassen und dürfen auch nicht hingehen, wenn sie in Glucks "Orfeo", Rossinis "Semiramide", Händels "Semele" und "Alcina" auftritt.
Und schon gar nicht dürfen sie Vivica Genaux mit dem "Operngucker" beim Singen beobachten. Die Mezzosopranistin bringt Koloraturen nämlich nur eruptiv, mit heftig (und scheinbar unkontrolliert) mitwackelndem Unterkiefer heraus - eine ihr bekannte, von ihr aber nicht weiter beeinflussbare Tatsache. Schade! Den Genaux-Abstinenzlern entgeht dadurch eine der individuellsten, physisch packendsten Stimmen, die es in diesem eng umrissenen Fach zurzeit gibt - aber wahrscheinlich bleibt, wer wie Vivica Genaux aus dem stromlinienförmigen "Schönklang"-Konzept ausbricht, immer Geschmackssache.
Die Elegische: Magdalena Kozena
"Schön!" Der Seufzer liegt einem auf der Zunge, wenn Magdalea Kozena Vivaldi-Arien singt, wie auf ihrer jüngsten CD, begleitet vom Venice Baroque Orchestra unter Andrea Marcon. Ein Temperamentsbündel, Vivica Genaux vergleichbar, ist die 1973 in Brünn geborene Sängerin zumindest am Konzertpodium nicht, und auch bei Vivaldi ist das Elegische, der sanfte Flötenton am ehesten "ihr Ding".
Wie war das mit den "voci parallele"? In ihren besten Momenten kann die Stimme von Magdalena Kozena - obwohl es im Repertoire der beiden kaum Überschneidungen gibt - wie die der verehrten, zu früh verstorbenen Sopranistin Lucia Popp klingen. Ob Magdalena Kozena womöglich ein "fauler Sopran" ist, eine Sängerin, die mit etwas Animo leicht übers Mezzo-Fach hinauskönnte? Ihre Stimme ist auffallend hell timbriert, und handelt es sich nicht bei der Melisande in Debussys "Pelleas et Melisande", ihrer letzten neuen Opernrolle, von ihr interpretiert unter anderem unter der musikalischen Leitung ihres Ehemannes Sir Simon Rattle, um eine ausgewiesene Sopranpartie?
Gerüchte besagen, dass die Salzburger Festspiele für und rund um Magdalena Kozena eine neue "Carmen" planen - das müsste dann eine sehr kammermusikalische, opéra-comique-hafte "Carmen" sein, denn eine expansive, ausladende Stimme besitzt Magdalena Kozena nicht. Dass das auch ein Vorteil sein kann, hat sie auf einem zwischen Chabier und Saint-Saens entlegende Pfade im französischen Musiktheater der Romantik beschreitenden CD-Solo-Recital gemeinsam mit dem mit orchestralem "Originalklang" aufwartenden Marc Minkowski bewiesen: "instrumentales" Singen, eine Stimme, als ob sie an lauen Sommerabenden durch die schwüle Nacht klingen würde ...
Anti-Carmen und Abba: Anne Sofie von Otter
Eine Carmen-Darstellerin muss jung sein? Prangend vollbusig? Castagnetten klappernd, Röcke schwingend, mit dröhnender Riesen-Stimme? Alles Klischees - was die, die "Carmen"-Aufnahmen seit Beginn der Aufzeichnungsgeschichte im Ohr haben, längst wissen. (Nur sitzen solche Menschen selten in Opern-Besetzungsbüros!) Vor ein paar Jahren beim Glyndebourne Festival war Anne Sofie von Otter die Carmen, entschieden in ihren 40ern, keine "klassische" Schönheit, das Gegenteil der Verführerin durch die Fülle des schieren Stimm-Wohllauts, schlank-herb intonierend, und mit einer Opern-Vergangenheit, in der zwar der Komponist in "Ariadne auf Naxos" (Giuseppe Sinopoli!) und der Octavian im "Rosenkavalier" von Richard Strauss (Carlos Kleiber!) eine wesentliche Rolle spielen, die aber dennoch von Mozart, Gluck und Händel dominiert wird.
Anne Sofie von Otter hat mit Elvis Costello gearbeitet und sich Abba-Lieder zurechtgebogen; ihr kann es gelingen, ein Album mit "Liedern aus Theresienstadt" zum Verkaufserfolg zu machen. Dirigenten, Regisseure, die sich "denkende" Sängerinnen wünschen, träumen von so jemand wie Anne Sofie von Otter, die heute, als Jahrgang 1955, manchmal etwas spröde klingen mag, aber Jüngeren noch allemal ein Lehrstück in "acting with the voice" gibt.
Die Zwischentöne, mit denen sie zuletzt beim Bergen Festival im Händel-Teil ihres Konzerts gemeinsam mit dem Concerto Copenhagen unter Lars Ulrik Mortensen Händels "Hercules" serviert hat! Opernstars mit Musik von Kurt Weill, das geht regelmäßig schief - nicht bei Anne Sofie von Otter, egal ob auf CD mit John Eliot Gardiner als Partner oder im Konzertsaal mit ihrem langjährigen Begleiter Bengt Forsberg. Von Otter mit Schubert: "Raste Krieger, Krieg ist aus", einer von Ellens Gesängen aus Sir Walter Scotts "Lady of the Lake" (Rossini machte daraus seine "Donna del lago"), kommt das noch einmal? Falls doch: nur ja nicht versäumen!
Hör-Tipp
Apropos Oper, Donnerstag, 27. August 2009, 15:06 Uhr