Verschleppt und deportiert

Atemschaukel

In ihrem neuen Roman setzt sich Herta Müller mit der Deportation der Deutschen in Rumänien auseinander, mit dem Leben im Lager und den Folgen für die Betroffenen. Bei ihren Recherchen unterstützt wurde sie vom rumänischen Lyriker Oskar Pastior.

"Da meine Mutter deportiert war - und nicht nur sie, sondern alle in der Generation - die Leute im Alter meiner Mutter waren von diesem Problem betroffen, und ich habe das immer wieder als Kind als Geflüster und Privatgespräche mitgekriegt; auch wenn ich nicht genau wusste, worum es geht, habe ich schon verstanden, dass diese Leute verstört sind, und darum hat mich das beschäftigt und ich hab mir schon viele, viele Jahre immer mal vorgenommen gehabt, ich müsste mal über dieses Thema schreiben", so die Autorin über ihren Zugang.

Jetzt hat Herta Müller ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt. "Atemschaukel" heißt das Buch, in dem sich die Autorin mit der Deportation der Deutschen in Rumänien auseinandersetzt, mit dem Leben im Lager und den Folgen für die Betroffenen. Wohl hat sie das Thema in ihren Büchern immer wieder am Rande behandelt, nun aber stellt sie es in den Mittelpunkt ihres Romans.

Zähneputzen ohne Zahnpasta

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wird der junge Leopold Auberg aus Hermannstadt von einer russischen Patrouille abgeholt und ins Arbeitslager gebracht - und damit beginnt für ihn ein langes Martyrium.

In ihrer bildreichen, poetischen Sprache lässt Herta Müller Leopold Auberg erzählen: vom Zähneputzen ohne Zahnpasta, von Gummigaloschen, die im Gegensatz zu Holzschuhen als Luxus gelten, von den Kalkfrauen, die die schweren Wagen mit Kalkbrocken ziehen müssen, und vor allem vom Hunger, der die Lagerinsassen ständig peinigt.

Gespräche mit Betroffenen

Um all dies schreiben zu können, hat Herta Müller zuvor zahlreiche Gespräche mit Betroffenen geführt. Ein Mann war dabei für sie besonders wichtig: der rumänische Lyriker Oskar Pastior, der seine Erfahrungen im Lager zwar immer wieder in seinem Werk verarbeitete, aber zuvor noch nie offen darüber gesprochen hatte.

"Da ich schon etliche Interviews gemacht hatte, habe ich gesehen, dass ich gerade mit Oskar Pastior diese Gespräche führen müsste, weil die Leute, mit denen ich bis dahin gesprochen hatte, nicht gewöhnt sind, über sich selbst zu sprechen", erinnert sich Herta Müller. "Und immer, wo es auf die Details ankam oder gerade was passiert mit einem selbst in so einer Extremsituation, genau an dem Punkt haben sich diese Leute nicht mehr mitteilen können. Und als ich mit Oskar Pastior anfing, darüber zu reden, hat er erzählt mit Einzelheiten, mit Kleinigkeiten; seine ganze Erinnerung basierte auf Einzelheiten und das ist ein großer Unterschied."

Ein "tragisches Glück"

Gemeinsam mit Oskar Pastior fuhr Herta Müller in die heutige Ukraine, wo sich die Lager befanden, in denen Pastior interniert war. Für beide war es ein emotionaler Aufenthalt, aber Müllers Befürchtungen, dass Pastior angesichts all der Eindrücke zusammenbrechen könnte, bewahrheiteten sich nicht.

"Er hat von 'unserem Lager', er hat sogar von 'meinem' gesprochen, er hat manchmal gesagt 'mein Kühlturm', es war ein tragisches Glück", erzählt Herta Müller. "Es hat mir weh getan, also ich habe geweint, versteckt, nicht er."

Leopold Auberg ist allerdings nicht nach der Person des Lyrikers modelliert. Vielmehr versuchte Müller, all die Erzählungen, die sie im Lauf ihrer Recherche zusammentrug, in ihrem Roman zu vereinen, wenn auch Pastior den Großteil der Details beitrug.

"Realitäten sind die konkreten Kapitel mit den Materialien, mit dem Zement, mit dem Sand, mit der Kohle, die Beschreibung des Arbeitsvorgangs, das sind Realien und diese Realien hat Oskar Pastior mir erzählt. Andere Dinge sind gemischt. (...) Da wo meine Mutter war oder andere Personen, die hatten nichts zum Heizen. Dort sind die Leute im Winter reihenweise erfroren. Ich habe natürlich darauf geachtet, dass dieses Lager den Durchschnitt des Elends einlöst. Sonst hätte ich eine idealisierte Lagersituation geschrieben. Und das wollte ich nicht."

Eigene Sprachschöpfungen

Fünf Jahre muss Leopold Auberg im Lager ausharren, gemeinsam mit Hunderten anderen Gefangenen. Da ist etwa die geistig zurückgebliebene Kati, die nachts in den Baracken Wache halten soll, die hinkende und missgelaunte Fenja, die das Brot verteilt, oder Irma Pfeifer, die eines Tages im Mörtel versinkt - vielleicht hat sie Selbstmord begangen, vielleicht ist sie aber auch nur gestolpert. Auch als Leopold Auberg schließlich heimkehrt, lässt ihn das Lager nicht los und noch Jahrzehnte später quälen ihn schlimme Träume.

Müllers eigenwillig-poetische Sprachschöpfungen verleihen dem Text dabei etwas Schwebendes, lassen ihn zwischen Realität und Imagination changieren, etwa wenn Leopold Auberg über den Hungerengel nachdenkt und darüber, ob jeder seinen eigenen Hungerengel hat, oder wenn er seine Schaufel als "Herzschaufel" bezeichnet. Auch der Titel des Buches, "Atemschaukel", ist solch eine Sprachschöpfung, über deren Ursprung Müller keine genaue Auskunft gibt.

Geschenk an Oskar Pastior

Oskar Pastior hat die Veröffentlichung des Buches nicht mehr erlebt: Als er im Jahr 2006 plötzlich starb, verlor Herta Müller einen Freund, und erst ein Dreivierteljahr nach seinem Tod konnte sie sich wieder mit dem Material befassen. All diese Emotionen scheinen auf den Seiten des Romans mitzuschwingen, der damit nicht nur ein sprachlich kunstvolles und inhaltlich beeindruckendes Werk ist, sondern auch eine Hommage an Pastior und seine namenlosen Schicksalsgenossen.

"Ich habe Oskar Pastior sehr, sehr gerne gehabt", bekennt Müller. "Er hat die letzten zwei Jahre seines Lebens so viel Zeit investiert, um mir darüber zu erzählen. Ich wollte natürlich, dass das jetzt ein Buch wird. Dass das nicht alles umsonst sein konnte. Ich hatte so eine innere Pflicht, ihm das zu schenken."