Neue Erkenntnisse der Epigenetik

Der zweite Code

Peter Spork hat sich eingehend mit den neuesten Forschungsergebnissen der weltweit führenden Epigenetiker auseinandergesetzt. In seinem neuen Buch "Der zweite Code" zeigt er auch, wie man die Aktivität seiner Gene beeinflussen kann.

Was haben Sie heute gefrühstückt? Fahren Sie regelmäßig mit dem Fahrrad zur Arbeit? Haben Sie sich in den letzten Tagen mal so richtig Zeit für sich selbst genommen und Stress abgebaut? Wann haben Sie zuletzt Ihrem Kind über den Kopf gestreichelt und es aufgemuntert?

Einfache Fragen am Beginn eines Buches über ein hoch komplexes Thema. Doch genau um diese einfachen Entscheidungen des Alltags geht es: Was esse ich? Wie viel Bewegung gönne ich meinem Körper? Wie viel Zeit widme ich meinen Familienmitgliedern? Denn fast alles, was wir Menschen tun oder andere mit uns tun, hinterlässt Spuren im molekularbiologischen Fundament unseres Körpers. Die Epigenetik, also sozusagen die "Neben-" oder "Übergenetik", zeigt, dass diese Spuren, wenn sie nachhaltig und stark genug sind, auf das innerste Wesen unserer Zellen wirken: das Erbgut.

Hardware und Software

Der deutsche Neurobiologe und Wissenschaftsautor Peter Spork findet einen einfachen Vergleich: Wenn Menschen Computer wären, dann bildeten die Gene die Hardware. Die Software dazu wären die Elemente, die das Erbgut programmieren. So wie die Software eines Computers entscheidet, ob wir ihn für Textverarbeitung, Tabellenkalkulation oder zum Spielen benutzen, so verdanken es die Zellen ihrer epigenetischen Programmierung, ob sie nun zum Denken oder zum Verdauen, zur Krankheitsbekämpfung oder zur Hormonproduktion dienen. Das Beste und Neue daran: Wer in der Lage ist, diese Software gezielt umzuprogrammieren, der kann die Möglichkeiten und die Kraft, die in den Genen steckt, besonders gut ausschöpfen.

Man könnte auch sagen, das Epigenom definiert die Bestimmung einer Zelle. Es sagt dem Genom, was es aus seinem Potenzial machen soll. Es entscheidet, welches Gen zu welcher Zeit aktiv ist und welches nicht. Dabei programmiert es sogar, ob eine Zelle schnell oder langsam altert, ob sie empfindlich oder abgestumpft auf äußere Reize reagiert, zu Krankheiten neigt oder ihre Aufgabe möglichst lange erfüllen kann.

Zellen können umgekrempelt werden

In der Schule haben die meisten von uns gelernt, dass Zellen bei ihrer Teilung lediglich ihr Erbgut weitergeben. Nun sind Biologen davon überzeugt, dass sie dabei auch das epigenetische Programm vererben. Dass es Epigenome geben muss, haben Forscher schon seit über 70 Jahren geahnt. So lange gibt es bereits diesen Begriff. Doch erst seit der menschliche Gencode komplett entschlüsselt ist, öffnet sich die Wissenschaft diesem "alten" Thema. Das Besondere an den Epigenomen und ihren Werkzeugen, den epigenetischen "Schaltern" ist ihre Flexibilität. Das heißt: Sie reagieren auf Umwelteinflüsse.

Erziehung, Stress, Hunger, Folter, Sport oder aber auch Erlebnisse im Mutterleib können die Biochemie der Zelle umkrempeln. Der genetische Code selbst bleibt dabei allerdings stets unangetastet. Die Epigenetik erklärt also erstmals aus rein biologischer Sicht, - und hier verwenden viele Beobachter das über Gebühr strapazierte Wort "Revolution" - wieso die Außenwelt unseren Körper und Geist dauerhaft verändern kann.

Die Epigenetik legt außerdem nahe, dass es sich oft schon vor der Geburt entscheidet, ob wir eines Tages Krebs, Diabetes, starkes Übergewicht, eine Suchterkrankung oder eine Herz-Kreislauf-Krankheit bekommen. Und sie kann erklären, warum manchen Menschen eine ungesunde Lebensweise weniger ausmacht als anderen.

Zwei sich ergänzende Seiten

Die ewige Streitfrage, welche Eigenschaften genetisch bedingt sind und welche durch Umwelteinfluss herbeigeführt wurden, ist obsolet, denn nun ergänzen sich beide Seiten. Die Umwelt beeinflusst das Erbe und umgekehrt. Das Epigenom ist die Sprache, in der das Genom mit der Umwelt kommuniziert.

Die wichtigste Botschaft von Peter Sporks Buch lautet also: Machen wir Schluss mit der fatalistischen Vorstellung, dass wir Sklaven unseres Erbgutes sind. Konstitution, Stoffwechsel, ja sogar die Persönlichkeit können geändert werden. Oder haben Sie eine wissenschaftliche Erklärung, was eine Psychotherapie im Gehirn etwa eines depressiven Menschen bewirkt?

Großes Hoffnungsfeld

Der Autor hat weltweit alle relevanten aktuellen Forschungsergebnisse zusammengetragen und liefert eine verständliche Übersicht des noch in den Kinderschuhen steckenden Forschungszweiges. Er erklärt anhand zahlreicher Beispiele aus dem Alltag, wie Epigenome funktionieren und verweist immer wieder auf die weitreichenden Folgen, die die neuen Einsichten für uns und unsere Lebensweise haben. Die größte und für die Pharmaindustrie naturgemäß interessanteste Hoffnung: Neue Medikamente, die effektiver helfen, weil sie falsche epigenetische Programmierungen rückgängig machen. Man darf gespannt sein, was uns "Der zweite Code" noch alles bringen wird.

Krankheitsvorsorge, Krebsforschung, Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie, Altersforschung, Evolutionsbiologie: All diese Felder profitieren von diesem neuen Teilgebiet der Genetik, erhalten kräftige Impulse. Das wird man doch schon mal eine Revolution nennen dürfen.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Peter Spork, "Der zweite Code. Epigenetik - oder wie wir unser Erbgut steuern können", Rowohlt Verlag

Link
Rowohlt - Peter Spork