Porträt Carlo Ginzburg
Gegen den Strich geschrieben
Carlo Ginzburg, italienischer Kultur-Historiker, ist führender Vertreter der Mikro- und der Neuen Kulturgeschichte. In seinen Büchern präsentiert Ginzburg oft gänzlich Neues, zeigt aber auch keinerlei Scheu, sattsam bekannte Themen aufzugreifen.
8. April 2017, 21:58
Carlo Ginzburg zählt zu den herausragendsten und meistdiskutierten Historikern unserer Zeit. Mit seinen seit den späten 1960er Jahren entstandenen Studien zu abweichenden religiösen Praktiken in der Frühen Neuzeit und zum Hexenwesen hat der Italiener Generationen von Forscherinnen und Forschern beeinflusst.
In Büchern wie "Der Käse und die Würmer" und "Hexensabbat" verbanden sich eingehende Analyse von Prozessakten und minutiöse Rekonstruktion von Zeitumständen zu einer neuen Lesart von Geschichte, die Ginzburg selbst gerne mit dem deutschen Ausdruck "gegen den Strich" charakterisiert.
"Dort, wo auch die Inquisitoren nicht wussten, worüber die von ihnen Verhörten eigentlich redeten, habe ich angesetzt", so Ginzburg im Gespräch. "Ich wollte die Stimmen der Angeklagten aus den Archiven ihrer Richter erretten, indem ich sie dekonstruierte; mein ganzes Interesse an methodischen Fragen ist ein Nebenprodukt dieses Zugangs. In mir selbst entdeckte ich dabei einen Zwiespalt: Während ich emotional auf Seiten der Angeklagten stand, fühlte ich mich kognitiv den Inquisitoren nahe und lernte von ihnen, indem ich ihnen gleichsam über die Schulter schaute."
Die Unterlegenen und die Außenseiter
Ginzburgs Interesse galt denjenigen, die der Prozess der Geschichte einfach fortgespült hatte, den Unterlegenen, den Außenseitern und Unzeitgemäßen. Nichts lag dem Historiker jedoch ferner, als deren Bekämpfung und Vernichtung in seinen Büchern zu idealisieren:
"Ich war enttäuscht als mein Buch 'Der Käse und die Würmer' von manchen als ein Fallbeispiel aus einer alternativen Heldengalerie gelesen wurde, in Wirklichkeit war der von mir porträtierte und von der Inquisition hingerichtete Müller Menocchio zwar eine starke Persönlichkeit, aber ganz und gar kein Held, sondern schlicht und einfach ein Opfer."
Mit Literatur aufgewachsen
In seinen historischen Erkundungen präsentiert Ginzburg oft gänzlich Neues, zeigt aber - wie in seinem aktuellen Schreibprojekt über Dante - auch keinerlei Scheu, Themen aufzugreifen, von denen man meint, dass zu ihnen bereits alles gesagt worden sei. Interpretation und Re-Interpretation, Konstruktion und De-Konstruktion, alle Mittel kommen zum Einsatz, wenn es gilt, die Arbeit des Historikers voranzutreiben. Und immer, wenn Ginzburg auf diese zu sprechen kommt, kann man die Freude spüren, die ihm jedes einzelne Projekt über die Jahre bereitet hat.
Ginzburg ist ein Neugieriger - ein Wesenszug, der im Leben wie im Schreiben von einer nicht bloß historischen, sondern ebenso starken literarischen Begeisterung herrührt. "Ich wuchs in einem Milieu auf, das von Literatur durchtränkt war", erzählt er. "Meine Mutter war Romanautorin. Mein Vater war Mitbegründer des Enaudi-Verlags, er unterrichtete russische Literatur - ehe er den Treueeid auf die Faschisten verweigerte und dafür sofort entlassen wurde -, und übersetzte 'Anna Karenina' ins Italienische."
Nach Leseeindrücken befragt, die seinen Schreibstil geprägt haben, fallen Ginzburg denn auch zuerst die großen russischen Romane des 19. Jahrhunderts ein, dann Marcel Proust. Bei Bert Brecht fand der Historiker die Methode der Verfremdung, die ihn zutiefst beeindruckte und die er noch immer als einen Schlüssel zu seinem wissenschaftlichen Werk versteht, weil es kritische Distanz ermöglicht.
"Komprimierte" Texte
Ob es um Freud geht oder um Piero della Francesca, um Sherlock Holmes oder um Lawrence Sterne, ob um unerhörte Geschichten aus der Populärkultur der Frühen Neuzeit oder um grundsätzliche Fragen der Geschichtsschreibung - immer baut Ginzburg in seinen Essays ein dichtes Argumentationsgeflecht, aus dem kein Satz herausgebrochen werden kann, ohne die Gesamtkomposition zu zerstören.
Ginzburgs Texte fordern ihren Lesern ein Höchstmaß an Konzentration ab, da sich in ihnen auf kleinstem Raum zusammendrängt, wofür andere oft mehrere Seiten benötigen. "Meine Absicht als Schreibender ist es, wieder-gelesen zu werden", sagt Ginzburg. "Ich möchte die Kommunikation mit dem Leser bewusst verlangsamen, der Text muss vollkommen klar, aber auch komprimiert sein und eine neue Art des Lesens beanspruchen dürfen.
Wie die großen Avantgardisten der Literatur des 20. Jahrhunderts ist Ginzburg immer auf der Suche nach Darstellungsweisen, die den Rahmen des herkömmlichen Erzählens sprengen. Alle seine Bücher bemühen sich immer auch darum, eine je eigene, optimale literarische Form zu finden, die über den gängigen Wissenschaftsbetrieb hinausweist, auch wenn sie sich nicht immer zur Gänze verwirklichen lässt.
Erst die Antwort, dann die Frage
Die spezifische Herangehensweise der Psychoanalyse an reale oder imaginierte Phänomene, ihre Materialwahl und ihre Verarbeitungstechniken, bieten Ginzburg zahlreiche Anknüpfungspunkte zur eigenen Arbeit als Historiker und inspirieren ihn dazu, grundsätzliche Fragen nach dem Einzelnen und der Gemeinschaft, nach Ereignis und Struktur interdisziplinär und auf überraschende Weise neu stellen zu können.
"Freud stellt eine Herausforderung für Historiker dar", meint Ginzburg. "Es wäre absurd, seine Bedeutung zu leugnen, ebenso absurd wäre es jedoch, seine Theorien einfach ungefragt zu akzeptieren. Vielmehr sollte man Freuds Antworten hernehmen und sie in Fragen zurückverwandeln. Besonders Freuds Umgang mit Fallgeschichten interessiert mich auf allen erdenklichen Ebenen: als Gedankenexperiment, als Erzählung und so weiter. (...) Ausgangspunkt ist das Detail, der Einzelfall, und dann folgt die interessante Frage, inwiefern dieser verallgemeinerbar sein könnte."
Vorbei ist vorbei
Das Nachdenken über die letzten Dingen ist bei Historikerinnen und Historikern nicht mehr beliebt, zu sehr hat sich der grundsätzliche Vorwurf an die Geschichte, sie sei bloß "Sinngebung des Sinnlosen", auch in der Zunft selbst breitgemacht. Ginzburg hingegen weicht der Frage nach Bedeutungen, die in geschichtlicher Erkenntnis gespeichert sein könnten, nicht aus, sondern hängt sie bloß eine Stufe tiefer. Eine apokalyptische Perspektive, wie sie etwa Walter Benjamin betont hat, wird von Ginzburg als Gedankenexperiment nicht grundsätzlich abgelehnt, weil sich in ihr die Idee einer zumindest losen Verknüpfung ansonsten vollkommen disparater Ereignisse erhalten hat.
"Geschichte ist per definitionem etwas, das aus einer Langzeitperspektive immer schlicht und einfach vorbei ist", so Ginzburg. "Kann man darin so etwas wie eine Bedeutung finden? (...) Kurzfristig betrachtet, leben wir tatsächlich in einem Urwald von Bedeutungen. Als eine Sequenz aber, als eine Verbindung zwischen vielen Einzelschritten und einem Resultat, gibt es sehr wohl Bedeutungen, die dann allerdings nur noch mit einem kleinen 'b' geschrieben werden."
Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 5. September 2009, 17:05 Uhr
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