1989, erster Akt

Bau ab und nimm mit!

Innerhalb weniger Monate veränderte sich 1989 das Gesicht Europas von Grund auf. Ungarn öffnete in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989 offiziell seine Grenzen für DDR-Flüchtlinge. Zwei Monate später fiel die Berliner Mauer. Wie kam es dazu?

Zwei Staatsmänner in Anzug und Krawatte, mit Bolzenschneidern in der Hand. Es ist das Foto vom damaligen ungarischen Außenminister Gyula Horn und seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock, das im Juni 1989 um die Welt geht: Beide zerschneiden den Stacheldraht des Eisernen Vorhangs an der gemeinsamen Grenze.

Das Jahr der großen Bilder

Einen Monat zuvor, im Mai, hatten ungarische Grenzsoldaten mit dem Abbau der Grenzsicherungen zum Westen begonnen. Doch erst das Foto der Außenminister erregt die Aufmerksamkeit, die diesem Schritt gebührt. Auch die Bilder vom 19. August 1989 sind in der internationalen Presse zu sehen. An diesem Tag gelingt zwischen 600 und 700 DDR-Flüchtlingen die Flucht von Ungarn nach Österreich.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt gilt der Trennlinie zwischen Ost und West die ungeteilte Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Die Massenflucht während des Paneuropäischen Picknicks an einer alten Poststraße zwischen Fertörakos und St. Margarethen im Burgenland ist erst der Anfang.

"Technisch, moralisch und politisch überholt"

In Ungarn beginnt der Sommer 1989 bereits im November 1988. Damals wurde Miklós Néméth zum Ministerpräsidenten gewählt. Ein Reformer, der Ungarn aus dem System des Warschauer Paktes ausgliedern und auf den Weg in Richtung Marktwirtschaft und Demokratie bringen wollte. Der Abbau des Eisernen Vorhangs soll eine seiner ersten Amthandlungen gewesen sein: Als Néméth kurz nach seinem Amtsantritt nach Sparmöglichkeiten im strapazierten ungarischen Staatshaushalt sucht, stolpert er über einen großen Posten mit codierter Bezeichnung. Dahinter verbergen sich die Kosten für die Erhaltung der maroden Sicherungen an Ungarns Grenze zu Österreich. Kurzerhand streicht er diese Posten aus dem Budget.

Gerüchte, Hoffnung, Massenflucht und Risiko

Die Nachricht vom Grenzabbau in Ungarn wird auch hinter der Berliner Mauer empfangen. In Ungarn sei die Flucht in den Westen möglich geworden, raunt man sich in der DDR zu. Ein Urlaub am Plattensee könne in Westdeutschland enden. Tausende DDR-Bürger wagen einen Versuch, bis zum August 1989 haben es schon einige Hundert geschafft. Die Massenflucht während des Paneuropäischen Picknicks öffnet die Schleusen: 150.000 DDR-Bürger halten sich zu dem Zeitpunkt in Ungarn auf; die Regierung beschließt, die Grenze zu öffnen - gegen den Widerstand der DDR, der unbeweglichen kommunistischen Regimes in Bukarest und Sofia, und unter dem Risiko, dass die wohlwollende Haltung Michail Gorbatschows in Moskau ein plötzliches Ende finden könnte.

Moskau hatte das Sagen und schwieg

Es geht alles gut. Die sowjetischen Truppen auf ungarischem Boden bleiben in ihren Kasernen. Die sozialistischen Bruderländer, die noch wenige Monate zuvor eine Intervention des Warschauer Paktes gefordert hatten, müssen ohnmächtig zusehen, wie ihre Bürger zu Tausenden über Ungarn in den Westen ziehen - vor allem Deutsche aus der DDR. Ein Flüchtling stirbt. Bei einer Rangelei mit einem ungarischen Grenzer löst sich ein Schuss.

Erfolg hat viele Väter...

20 Jahre später sind viele Fragen noch ungeklärt. Die Organisatoren des Paneuropäischen Picknicks, das Ungarische Demokratische Forum, wurden von der Massenflucht am 19. August überrumpelt. Bis heute ist unklar, wie die Flugblätter, mit denen ausschließlich Österreicher und Ungarn aus der Grenzregion zum Speckbraten geladen werden sollten, bis nach Budapest und an den Plattensee gelangen konnten. Es hat geheime Treffen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der ungarischen Regierung gegeben. Welche Abmachungen dort genau getroffen wurden, bleibt im Dunkeln. Ungarn öffnete die Grenze in der Nacht vom 10. zum 11. September 1989. Hat Helmut Kohl um diesen Termin gebeten, um damit auf dem Parteitag der CDU, der zeitgleich stattfand, seine Position festigen zu können? Die Autobiografien der damaligen Regierungschefs und Minister sind wenig aufschlussreich.

"Erfolg hat viele Väter", sagt ein Sprichwort, "Misserfolg ist ein Waisenkind".

Mehr dazu in oe1.ORF.at
Historiker analysieren "Paneuropa-Picknick"
Massenflucht hunderter DDR-Bürger

Hör-Tipp
Hörbilder, Samstag, 12. September 2009, 9:05 Uhr

Link
Paneuropa-Picknick 2009

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  • Wendejahr 1989