Lexikon der hinterhältigen Beschönigungen

Das Schaf im Wortpelz

Egal, wo man hinschaut oder hinhört - Beschönigungen überall. Der deutsche Publizist Reinhard Schlüter nennt derartige Erscheinungen "Das Schaf im Wortpelz" in seinem neuen gleichnamigen "Lexikon der hinterhältigen Beschönigungen".

Die Dinge falsch zu benennen heißt: das Unglück der Welt zu mehren. (Albert Camus)

Wenn wir uns die Frage stellen, wo uns am häufigsten sprachliche Verschönerungen begegnen, brauchen wir uns einfach nur zu fragen: Wo wird am meisten gelogen? Die Antwort: Richtig - in der Politik. Tarnen und täuschen ist hier seit jeher das Motto. Das Maß an Unverfrorenheit scheint sich allerdings gerade in den letzten Jahren gesteigert zu haben.

Euphemismen in Politik- und Wirtschaftssprache

An viele Phrasen wie etwa "den Dialog suchen", "dringenden Handlungsbedarf erkennen " oder "an die Rahmenbedingungen anpassen" haben wir uns längst gewöhnt und nehmen sie deshalb als sprachlichen Unfug kaum mehr wahr. Doch es lohnt genauer hinzuschauen. Die oft beschworene "Solidargemeinschaft" etwa, in der es dann nicht selten aus "ökonomischen oder politischen Sachzwängen" zu "Maßnahmen" oder gar "Maßnahmen-Paketen" kommt. Im Klartext heißt das zumeist: Die Kleinen werden noch mehr geschröpft, die Großen richten sich's.

Apropos klein: Der berühmte "kleine Mann auf der Straße" ist ebenso als nebulös zu bezeichnen, wie die immer wiederkehrenden Stehsätze mit Schlüsselwörtern wie "Transparenz", "Weichenstellung", "Minuswachstum" oder "Gesprächskultur". Zuwanderer werden als "integrationsresistent" bezeichnet, der "Zuzug" von Familienangehörigen wird "geregelt", während er in Wahrheit beschränkt wird.

Wortkreationen der NS-Propaganda

Wirklich bedenklich wird es, wenn in den politischen Verlautbarungsalltag Worte und Floskeln Einlass finden, die nachweislich aus dem Repertoire der NS-Propaganda stammen. Dem "ABC des Unmenschen" widmet der Autor ein eigenes Kapitel, das von "akquirieren" über "Gnadentod" bis "unerschütterlich" reicht.

Wem fiele bei Begriffen wie "Gleichschaltung", "Schutzhaft" oder "Euthanasie" noch auf, dass selbst nach über 60 Jahren so mancher NS-Euphemismus nach wie vor ungefiltert das dahinterstehende Unrecht sprachlich verblendet?

Das Wort "Sonderbehandlung" - das in der internen Nazi-Korrespondenz für die Folter und Ermordung von Regimegegnern steht oder der Begriff "Selektion", der aus dem "Wörterbuch des Rassismus" stammt, sind nur einige Beispiele für den grausamen Zynismus der NS-Propaganda.

"Totale Verschönerung" im Sprachgebrauch

Doch auch auf britischer Seite war etwa die dem Ministry of Information unterstellte BBC damit befasst, Informationen bezüglich des Kriegsverlaufs zu manipulieren. Einer der damaligen Mitarbeiter war der Publizist Eric Arthur Blair, der unter dem Pseudonym George Orwell zu einem der berühmtesten britischen Schriftsteller werden sollte. Die Beschäftigung mit bewussten Begriffsverdrehungen lieferte die Inspiration für das so genannte "Newspeak" seiner düsteren Utopie "1984".

Wenn wir heute an den inflationären Gebrauch von Vokabeln wie "unschön", "unsanft" oder "unvorteilhaft" denken, so merken wir, dass wir vielleicht gar nicht so weit entfernt sind von jener "totalen Verschönerung". George W. Bushs "Büro für globale Verständigung", das die Mär von Saddam Husseins Atomwaffenprogramm und dem folgenden "Präventivschlag" verbreitete, muss man da gar nicht erst bemühen.

Auch bei uns verstecken sich Demokratie- oder Sozialabbau hinter Begriffsverdrehungen, Verallgemeinerungen, Vernebelungen und Beschönigungen – kurz: hinter Euphemismen. Doch sind wir wirklich nur arme Schafe, die sich von den Mächtigen und Wissenden willenlos anschmieren beziehungsweise "die Wolle übers Gesicht ziehen" lassen, wie die Briten es ausdrücken?

Sprachliche Verzerrungen im Alltag

Bei selbstkritischer Betrachtung: keineswegs. Wir gehen auf ein "Bierchen", rauchen dazu ein "Zigaretterl" und trinken danach noch ein "Schnapserl". Später sind wir "angeheitert" oder haben gar einen "Brummschädel". Nach vielen regelmäßigen Bierchen könnte sich dann durchaus ein "Bäuchlein" abzeichnen. Aber kein Problem: denn "Problemzonen" rücken wir mit "Halbfettprodukten" oder "feinst konturierenden Minifettabsaugungen", die uns der "Maßnahmenkatalog" der "Schönheitschirurgie" vorschlägt, tapfer zu Leibe.

Wenn uns keiner "aus dem Weg räumt", "beseitigt", "um die Ecke bringt" oder "das Licht ausbläst" werden wir trotzdem niemals alt, sondern höchstens "betagt", "angegraut", "reif" oder "angejahrt". Alles, was ein bisschen aus der grauen Masse herausragt, finden wir "giga-, super-, hammer-, mega-, affen- oder urgeil".

Sprachmanipulation gegen das Unerträgliche

Offenbar ist niemand davor gefeit, mittels Sprachmanipulation Unangenehmes erträglich darzustellen, was auch ein Blick in die verschiedensten Bereiche unserer Gesellschaft und ihren ganz individuellen Umgang mit dem Schönreden deutlich macht. Der Autor widmet sich hier insbesondere der codierten Lebensmittelsprache, Stilblüten aus dem Bürokratismus, dem Ärzte- und dem Jägerlatein, militärsprachlichen Vernebelungstaktiken, sowie dem mit "Schafen in Wortpelzen" wildwuchernden Wohnungsmarkt.

Unverbaut ... klingt gut, unverbaubar wäre besser!
Idyllische Hanglage ... mit unidyllischer Hangnässe bei Regen!
Aufstrebendes Viertel ... Die Preise sind jetzt schon so hoch, als sei der Baulärm längst vorbei!


1.000 absurde, witzige, pseudo-informative, aber auch zynische, grauenhafte, menschenverachtende Begriffe, die uns täglich begegnen, die wir aber viel zu selten hinterfragen. Wenn man auch nur hin und wieder in Reinhard Schlüters "Lexikon der hinterhältigen Beschönigungen" schmökert, schärft das schon die Wahrnehmung auf diese tückischen Wortmonster.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Reinhard Schlüter, "Das Schaf im Wortpelz. Lexikon der hinterhältigen Beschönigungen", Eichborn Verlag