Vom Ende der Nachkriegsordnung

Ich kann jeder sagen

Ich zu sagen und sich dabei auch zu meinen, das ist eines der Themen, die Robert Menasses jüngstes Buch wieder und wieder umkreist. "Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung" nennt Menasse die 14 Geschichten.

Die beiden wollen schnell heiraten. Der erste Termin, den sie bekommen, ist der 9. November. Alle scheinen zufrieden. Allein der Vater des Bräutigams erregt sich: An so einem Tag, da könne man nicht feiern, ob denn der Sohn wahnsinnig sei und nicht wisse, dass dies das Datum der Reichskristallnacht gewesen sei? Na, und? Der Sohn bleibt gelassen. Was habe das mit ihm zu tun? Er lässt sich trauen. Den Abend jenes 9. November, die Hochzeitsnacht also, verbringen er und seine nunmehrige Frau vor dem Fernsehapparat: In Berlin fällt die Mauer. Die zwei sehen fassungslos zu, wie sie Teil der Geschichte werden, ihrer Geschichte.

Ich zu sagen und sich dabei auch zu meinen, das ist eines der Themen, die Robert Menasses jüngstes Buch wieder und wieder umkreist. "Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung" nennt er die 14 Geschichten, die er unter einem starken Titel zusammenschließt: "Ich kann jeder sagen". Und so ist es dann auch.

Im Schatten des Holocaust

Die verschiedenen Ich-Erzähler des Buches sind Männer mittleren Alters, alle nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Welt gekommen. Wie schafft man es, sich von den Eltern abzugrenzen und seinen eigenen Standpunkt zu finden? Nach und nach bricht die Welt in den privaten Alltag ein, man wird selbst zum Zeitzeugen und verankert sich im politischen Geschehen.

Viele der Nachgeborenen wachsen im Schatten des Holocaust auf. Die eigenen Erfahrungen verblassen, sie haben kaum Gewicht. Immer steht ihnen die Geschichte der Eltern im Weg, das Elend von Großeltern, Tanten und Onkeln, von deren Freunden. Wer die Erinnerungen an die bitteren Erlebnisse so vieler Menschen mit sich herumträgt, duckt sich. Der hört zu und nimmt sich selbst nicht so ernst.

Überleben im Affenkäfig

Der Ich-Erzähler in der Geschichte "Das Ende des Hungerwinters" ist einer dieser Söhne, die schwer zu einem eigenen Leben kommen. Das Los seiner Familie ist einfach übermächtig. Die Großeltern, gebürtige Deutsche, wohnen seit 1934 in Amsterdam und haben dort auch einen Sohn bekommen. Als der Nazi-Terror über die Niederlande hereinbricht, müssen sie untertauchen. Ein Nachbar hilft ihnen. Er ist Wärter im Zoo und versteckt die drei in jenem Teil des Affenkäfigs, der von außen nicht wirklich einsehbar ist. Dort hausen sie nun, in Pelzmäntel gewickelt, die sich bald nicht mehr vom Fell ihrer Mitbewohner unterscheiden.

Mit den Affen teilen sie sich das Essen: "Knedl". Man hat sie aus allem Essbarem fabriziert, das in jenen Tagen noch aufzutreiben ist. Amsterdam hungert. Auch im Zoo leidet man. Doch der Direktor weiß sich mit den Nazis zu arrangieren. Elefanten, Kamele, Affen: Er bietet das Unterhaltungsprogramm für die Soldaten und bekommt dafür zusätzliche Futterrationen für die Tiere. Die meisten von ihnen überleben – und mit ihnen insgesamt etwa 200 Juden, die man in den Käfigen versteckt gehalten hat.

Wie oft hat der Erzähler, der lange nach dem Krieg geboren ist, die Geschichte schon gehört? So oft, dass er selbst schon in diesen fremden Biografien zu verschwinden droht. Seine Jahreskarte für den Zoo hat ihn monatelang zu den Affenkäfigen geführt. Dort sucht er seinem Vater näherzukommen – und damit auch sich selbst. Des Vaters Tränensäcke wachsen, doch die Tränen wollen nicht fließen. Er ist innerlich erstarrt, die eigene Biografie zu einer Serie bitterer Anekdoten gefroren. Bis die Dämme endlich brechen.

Demonstranten in der Boltzmanngasse

Die Geschichte über "Das Ende des Hungerwinters" gehört zu den stärksten dieses Bandes. Und überhaupt: Am atmosphärisch dichtesten werden die Erzählungen überall dort, wo sich das politische Geschehen ganz verständlich mit den Biografien der Helden verbindet: die Erinnerungen an die Ermordung John F. Kennedys, an die Jahre der RAF und der Entführung von Walter Palmers, an die Unruhen nach dem Putsch in Chile und der Ermordung Salvador Allendes.

Unter den Demonstranten, die sich an jenem 11. September 1973 vor der Botschaft der Vereinigten Staaten in der Wiener Boltzmanngasse zusammenfinden, ist auch ein unsicherer, melancholischer Philosophiestudent. Er macht, was alle machen, und wirft Pflastersteine auf Polizisten. Das Buch, das er zufällig dabei hat, streckt er in die Luft – es ist "Die Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer und Adorno. Dass er fotografiert wird, ahnt er nicht. Tags darauf erscheint sein Bild im "Kurier", und darunter die Zeile: "Studenten demonstrierten mit der Mao-Bibel vor der US-Botschaft".

Des Erzählers Vater ist geschockt: So einer ist er also, sein Sohn, der angehende Philosoph. Geld bekomme er von ihm keines mehr, lässt er ihn wissen, bis er wieder vernünftig geworden sei. Und das geht schneller, als der Vater denkt. Der junge Mann schmeißt das Studium, wird Kaufhausdetektiv, dann Polizist. Ausgerechnet er. Falschgelddezernat. Wenig zu tun, ein sicherer Posten. Es hat sich halt so ergeben. Er bekommt selber einen Sohn, und der studiert Philosophie wie sein Vater. Aber wohin es ihn zieht, das weiß auch er nicht. Die großen politischen Utopien haben ausgedient, die Vorlesung dazu ist abgesagt.

Aufbruch aus der Umklammerung

Robert Menasses Erzählungen sind wache Bebachtungen der vergangenen Jahrzehnte. Sie kommen lakonisch daher, ab und zu auch kokett verspielt, durch die Pointen allzu gedrechselt. Das würde es gar nicht brauchen. Sie haben ohnehin ihre eigene Form, indem sie Elemente des Essays und der Reportage mit einfließen lassen.

Robert Menasse ist 1954 geboren. Seine Erzählungen spiegeln das Lebensgefühl seiner Generation, das Freikommen aus der Umklammerung der lange nachwirkenden NS-Zeit, den Aufbruch, die Desillusionierung. Es bleibt das Wissen darum, dass unser aller Dasein nichts anderes ist als ein groteskes Missverständnis, um es mit Thomas Bernhard zu sagen.

"Tot sein heißt gewesen sein", liest einer der Ich-Erzähler auf einem Grabstein. "Falsches Leben heißt: nicht einmal das." Man hat die Wahl. Zugreifen freilich muss man dann doch selbst. Und dann schauen, wo man bleibt. Damit die Erinnerungen und die Geschichte dereinst die wirklich eigenen sind.

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Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Buch-Tipp
Robert Menasse, "Ich kann jeder sagen. Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung", Suhrkamp Verlag

Link
Suhrkamp - Robert Menasse