Irlands Krise tut weh
Den Buckel voll Schulden
Am 2. Oktober stimmen die Iren zum zweiten Mal über den Lissabon-Vertrag ab. Diesmal stehen alle Zeichen auf Zustimmung. Ein Grund für das Umdenken ist die tiefe Wirtschaftskrise, in die Irland stärker als viele andere Länder geschlittert ist.
8. April 2017, 21:58
Angesichts drastisch geschrumpfter Einnahmen hat der irische Staat schon im letzten April Sondersteuern erhoben sowie eine zusätzliche Pensionsabgabe für den öffentlichen Dienst. Der 61-jährige Lehrer Joe Cashin macht Kassensturz. Netto verdient er jetzt pro Jahr rund 5.000 Euro weniger. Das merkt man.
Aber es sind nicht nur die Gehälter, die dem Rotstift schon zum Opfer gefallen sind. Bis vor kurzem hatte die Schule von Scoil Mhuire - irisch für Sankt Marien - acht Klassen und acht Lehrer bzw. Lehrerinnen. Nun haben sie einen Lehrer verloren, das heißt, dass die obersten beiden Klassen statt wie bisher 20 nun 30 Schüler und Schülerinnen haben. Joe Cashin macht sich Sorgen, dass die Fortschritte Irlands im Bildungsbereich wieder verloren gehen könnten.
Nach 40 Jahren Arbeit vor dem Nichts
Ein anderes Beispiel ist Seamus Kiely. Der 57-Jährige hatte alles exakt geplant: Kommendes Jahr hätte der gelernte Glasschleifer nach 41 Dienstjahren in vorzeitige Pension gehen sollen. Aber im Jänner machte seine Firma, Waterford Crystal, die Verkörperung dieser Stadt, pleite. Seamus stand mit 800 Kollegen und Kolleginnen auf der Straße.
Verletzt ist er, sagt er. Nach 40 Jahren stehe er nun da mit nichts. Tatsächlich ist auch die Pensionskasse der Firma nach unglücklichen Investitionen fast leer. Seamus Kiely lebt von den 204 Euro, die er pro Woche als Arbeitsloser erhält, auf eine Pension hofft er nicht mehr. "So hat sich Irland verändert. Jeden zweiten Tag werden Massenentlassungen gemeldet, gerade letzte Woche wieder 200", sagt der nutzlos gewordene Handwerksmeister resigniert.
Geplatzte Immobilienblase
Der Hauptgrund, weshalb die irische Wirtschaftsleistung dieses Jahr um etwa neun Prozent einbricht und die Arbeitslosigkeit schon auf 12 Prozent hochgeschnellt ist, liegt hier, am Nordrand von Waterford. Der Immobilienmakler Des Purcell deutet auf einen hohen Stahlzaun und das struppige Brachland dahinter - sündhaft teures Bauland, umgeben von halbfertigen und unverkäuflichen Wohnsiedlungen: "Dort sieht man die rostenden Container, die einst das Werkzeug und die Maschinen des Bau-Unternehmers enthielten. All das ist nun zum Stillstand gekommen."
In den guten Zeiten hatte Purcell zwölf Angestellte, heute sind es nur noch drei. Im Boom gab es keine Grenzen: "Wir hätten 80 Stunden pro Woche arbeiten können", erinnert sich der Makler, "sobald eine Immobilie da war, war sie auch schon verkauft." Die Banken schaufelten das Geld damals raus, als wenn der Weltuntergang bevorstünde, erzählt Purcell. Jeder habe Hypotheken oder Kredite erhalten, alles wurde verkauft.
Arbeitsloses Bürgertum
Der Kollaps der irischen Wirtschaft sei schlimmer als irgendwo sonst seit 1945. Seine Freunde, Architekten, Anwälte, Ingenieure, seien plötzlich arbeitslos, sagt Des Purcell: "Die Mittelschicht, das irische Bürgertum, hat nie damit gerechnet, arbeitslos zu werden."
Die staatlichen Raumplaner hätten versagt, glaubt er. Sie verwandelten genug Äcker in Bauland für die nächsten 40 Jahre. Und was ist mit den Spekulanten und Bau-Unternehmern? Alle kamen von außen. Da sei kein Einheimischer darunter gewesen. Experten seien ja bekanntlich Leute, die 150 Kilometer entfernt wohnten; diese Experten hätten sich eben verspekuliert und sich dabei die Finger verbrannt, was ihnen recht geschehe, schließt Purcell.
Jetzt sind diese Siedlungen und das wertlose Bauland daneben Kandidaten für die staatliche Immobilienbank, genannt NAMA, die den Banken alle ihre Hypotheken und Spekulanten-Darlehen abkaufen soll.
Mangelnde Forschungsinvestitionen rächen sich
Waterford bezeichnet sich selbst als die älteste Stadt Irlands - die Wikinger gründeten die erste Siedlung bei der Mündung des Flusses Suir im 9. Jahrhundert. Heute leben 45.000 Menschen in der Stadt, weitere 80.000 in der näheren Umgebung. Michael Garland, der Leiter der Handelskammer, berichtet über die Probleme der Stadt: Die Wirtschaft sei einseitig von der verarbeitenden Industrie abhängig. Und da werde derzeit ein Betrieb nach dem anderen geschlossen oder verkleinert.
Irland sei für die reine Fabrikation einfach zu teuer geworden. Denn die sauberen, schlauen Branchen, die Irland sonst kennzeichnen, die Elektronik, die Software, Pharma - die kamen nie bis Waterford. Waterford habe sich allzu sehr auf die alten Fabriken verlassen und es versäumt, eine eigene Universität aufzubauen, sagt Garland. Das sei jetzt der Plan für die Zukunft.
Hoffnung Lissabon-Vertrag?
Jetzt ist Irland dabei, die Scherben zusammenzukehren. Der Schock über den jähen Absturz sitzt tief. Selbst die Opposition befürchtet, die Wähler und Wählerinnen könnten sich an der verachteten Regierung rächen. Senator Paudie Coffey vertritt Waterford für die Oppositionspartei Fine Gael in der zweiten Parlamentskammer. Er hoffe sehr, dass auch die Gegner der amtierenden Regierung für den Lissabonner Vertrag stimmten, sagt er, denn der sei Irlands einzige Hoffnung.
Manche haben deshalb ihre Meinung geändert. Zum Beispiel Michael Keane, der Präsident des lokalen Bauernverbandes: "Alle haben bisher von Europa profitiert. Die EU wird ohne Irland eigene Wege gehen - aber Irland muss im Herzen Europas bleiben."
Hör-Tipp
Europa-Journal, Freitag, 25. September 2009, 18:20 Uhr