Wo die Träumer zu Hause sind

Hinterland

Feridun Zaimoglus neuer Roman ist ein außergewöhnliches Buch, in dem sich Reales mit Phantastischem vermischt. Diese Elemente verleihen dem Roman eine surreale Ebene aus Träumen und Vorstellungen, an der der Autor besonderes Vergnügen hatte.

"Ich wollte einen Liebesroman schreiben, aber ich wollte auch ein Zauberbuch schreiben", sagt Feridun Zaimoglu über sein neuestes Werk. "Über Träumer und Verträumte wollte ich schreiben und ich wollte auch aufschreiben, was mit Liebenden geschieht, wenn sie in die Träume anderer Menschen geraten."

Liebe, Träume, Verzauberungen, aber auch Abschweifungen und Verästelungen - all das findet sich im neuen Roman von Feridun Zaimoglu mit dem Titel "Hinterland". Es ist ein anderer Zaimoglu, ein ausschweifender Zaimoglu, der eine opulente Erzählweise mit einer ebenso opulenten Handlung zu verbinden weiß.

Quer durch Europa

Im Mittelpunkt stehen der Berliner Schuhmacherlehrling Ferda und die Prager Komponistentochter Aneschka, die sich ineinander verlieben. Aber das, was in vielen Romanen den Schlusspunkt bildet, ist für Feridun Zaimoglu bloß der Auftakt für eine gewaltige Reise quer durch Europa. Prag, Istanbul, Budapest, Berlin, die Insel Föhr, das sind nur einige der Orte, an die es Zaimoglus Protagonisten verschlägt, und die der Autor selbst während der Arbeit an seinem Buch bereiste:

"Ich habe letztes Jahr Dutzende und Aberdutzende von Lesungen gehabt und hatte noch diese Rechercheaufenthalte in Osteuropa, Mitteleuropa", erzählt Zaimoglu. "Ich habe dann auch wirklich wie im Fieber geschrieben und geschrieben und es wurde mehr und ich wusste, da ist ein großer Zusammenhang, und so habe ich nicht aufgehört, bis ich die letzte Zeile des Romans fertig geschrieben hatte." Herausgekommen ist ein außergewöhnliches Buch, in dem sich Reales mit Phantastischem vermischt.

Originelle Gestalten

Ferda und Aneschka trennen sich immer wieder, er wird in Istanbul in Sippenhändel verwickelt, sie folgt ihrer deutschen Brieffreundin Helen nach Berlin, bevor das Paar sich erneut trifft und abermals aufbricht, und dazu kommt eine Fülle an originellen Gestalten - etwa das Gaunerpärchen Franz und Fritz, die bisexuelle Sandra oder die Dame Vlasta, die im Waldhäuschen lebt und engen Kontakt zu den dort hausenden Zwergen pflegt.

Ich werde angemaunzt von Katzen, dachte sie, ich werde angebellt von Dackeln und ich werde angefaucht von Zwergen, die Grimmigkeit wandelt sich aber schnell in etwas anderes Freundliches. Hatte sie die Fingerhüte aufgefüllt? Ja. Stattete das Weiblein einen Hausbesuch ab ohne arge Gedanken oder war sie vorgeschickt worden, um sie abzulenken? Und die Erdkerlchen würden die Posaunen des Zorns blasen, über den großen Graben strömen und sie niedertrampeln. Wie brachten Zwerge einen Menschen zu Fall? Sie bliesen ihm die Betrunkenheit ein. Und wie wehrte sich ein Mensch gegen das Zwergengetümmel? Das Weiblein hatte es ihr verraten, sie musste einfach nur pfeifen. Und da ging ihr auf, dass man ihr dies Geheimnis verriet, weil man nicht wollte, dass sie sich vor ihnen verbarg.

Diese phantastischen Elemente verleihen dem Roman eine zweite Ebene, eine surreale Ebene aus Träumen und Vorstellungen, an der Feridun Zaimoglu besonderes Vergnügen hatte: "Ich hatte Momente, da habe ich selber ziemlich gegrinst. Ich schrieb, dass die Dame Vlasta, die im Waldhaus wohnt, sich im Laufe der Zeit mit den eingebildeten oder wirklich lebenden Wichteln anfreundet. Und dann schrieb ich, dass die Zwerge die Fingerhüte, die leeren Fingerhüte hochhalten, auf dass sie sie mit Quittensaft fülle. Und da musste ich grinsen. Über den Unfug, den ich da geschrieben habe. Und es freute mich."

Hommage an die Abschweifung

Einordnen lässt sich das Buch nicht, vielmehr sprengt es in seiner Opulenz jeglichen Rahmen und verweigert sich konsequent einer Schubladisierung. Es ist so etwas wie eine Hommage an die Abschweifung, an die Verästelung, ein barock erzähltes Werk, das sich auch auf die deutsche Romantik, die phantastischen Erzählungen etwa eines E. T. A. Hoffmann beruft.

"Ich wollte mich nicht an irgendwelche Avantgardemuster halten und ich wollte auch im Sinne der archaischen Geschichtenerzähler diese Geschichte aufschreiben", sagt Zaimoglu."

Auch der Titel "Hinterland" ist sorgfältig ausgewählt. Es sei ein Symbol für das Abseits, sagt Zaimoglu, für die Hinterseite des Geschehens, die er in seinem Roman abbilden wollte: "Die schöne Provinz der Träumer und der Verträumten, die schöne Provinz der Zivilisten, der Männer und Frauen, von denen man doch sagt, dass sie, weil sie eben nicht in den brodelnden Metropolen lebten, im Abseits stehen. Sie aber stehen nicht im Abseits. Ich glaube, Hinterland ist so als Landschaft gemeint, als Landschaft der Träume, der Geschichten."

"Wie verliebt"

Es ist ein bestrickender, verführerischer Roman geworden, ein Roman, der die Freude am Erzählen zur Maxime erhebt, der sich nicht um Regeln und Beschränkungen schert, sondern ausbricht und immer wieder überrascht. Ein Roman aber auch, der Zaimoglu selbst einiges abverlangte. Sechs Kilo nahm der Autor ab, während er schrieb und reiste und reiste und schrieb und zeitweise gar nicht mehr wusste, ob er nun Tourist war, Autor, Handlanger seiner Charaktere oder womöglich selbst nur eine Romanfigur in seinem eigenen Kosmos.

"Ich war wie verliebt", gesteht Zaimoglu. "Ich habe wenig gegessen, ich habe viel geraucht und viele Tassen Kaffee getrunken; weil ich in dieser Geschichte stand und mitspielte, sah ich sehr ausgezehrt aus. (...) Für dieses Buch bin ich an die Grenze der Belastbarkeit gegangen."

Buch-Tipp
Feridun Zaimoglu, "Hinterland", Kiepenheuer & Witsch