Kindheitserinnerungen an die russische Großmutter
Die Promenade
Die Mythen um die russische Zarenfamilie sind der Ausgangspunkt von Véronique Olmis Roman "Die Promenade", in dem die Autorin eigene Erinnerungen an ihre Familie und an ihren Geburtsort Nizza verarbeitet. Jeden Abend flüchtete sie in eine Fantasiewelt.
8. April 2017, 21:58
"Ich wollte über Nizza schreiben, denn ich habe noch nie über meine Stadt geschrieben. Ich habe eine Novelle über meine Großmutter verfasst, aber ich wollte mehr über sie schreiben", meint die Autorin Véronique Olmi, die sich in ihrem Werk mit der Konfrontation zwischen der alten und der jungen Generation auseinander setzt. So hat sie ihre eigenen Erinnerungen an Nizza zu einem Roman mit dem schlichten Titel "Die Promenade" verarbeitet.
Flucht in die Phantasiewelt
Die dreizehnjährige Sonja wächst in den 70er Jahren bei ihrer Großmutter in Nizza auf - was für das Mädchen nicht immer ganz einfach ist. Denn die Großmutter, genannt Babuschka, ist eine russische Aristokratin, die vor den Bolschewiken an die Cote d’Azur geflohen ist, eine strenge, unabhängige Frau, die überall Agenten des russischen Geheimdienstes wittert und behauptet, die Wahrheit über das Schicksal der Zarentochter Anastasia zu kennen, weshalb sie den französischen Staatspräsidenten sowie den Herausgeber der Zeitschrift "Historia" mit Briefen in holprigem Französisch bombardiert. Sonja flüchtet ihrerseits in eine Phantasiewelt: Jeden Abend vor dem Schlafengehen erfindet sie eine Geschichte, die mit dem ersten Satz aus dem Roman "Rebecca" von Daphne du Maurier beginnt: "Gestern Nacht träumte ich, ich wäre wieder in Manderley". Dieses Manderley ist Sonjas Zufluchtsort, wo sie vor ihrer Großmutter sicher ist.
"Das war eine Zeit, in der die Kinder sehr viel durch die Literatur erlebt haben, viel mehr als heute, und die Flucht gelang durch die Vorstellungskraft und auch durch die Sehnsucht, denn diese Sehnsucht war sehr produktiv. Sonja ähnelt mir in dieser Fähigkeit, sich von einem Satz oder einem Wort treiben zu lassen", so die Autorin.
Autobiografie mit Abweichungen
Ganz autobiographisch ist der Roman freilich nicht. Wohl wuchs Véronique Olmi im russischen Viertel in Nizza auf, aber sie hatte im Gegensatz zu Sonja mehrere Geschwister und ihre Großmutter war keine Russin, sondern Französin, allerdings tatsächlich mit einem leidenschaftlichen Interesse für Geschichte, auch für das Schicksal der Zarenfamilie. Sie erzählte ihrer Enkelin von Anastasia und Olmi übernimmt diese Geschichte als eine Metapher für das unbekannte Russland, mit dem ihre Protagonistin konfrontiert wird.
Die russische Zarenfamilie als Anhaltspunkt
Während Sonjas Mutter von Unruhe getrieben durch die Welt reist und sich nur selten in Nizza blicken lässt, muss Sonja sich unfreiwillig mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetzen, mit den Erzählungen aus Russland und immer wieder mit Anastasia - ein Thema, das die 13jährige gründlich satt hat. Erst als Babuschka auf der Straße stürzt und sich verletzt, kommt Sonja ihr näher. Sie pflegt die alte Dame, die sich zunächst kategorisch weigert, in ein Krankenhaus zu gehen, und sie erkennt langsam, dass die Anastasia-Geschichte ihrer Großmutter Halt gibt - und dass sie jemandem diese Geschichte erzählen muss.
Gerade dieser historische Aspekt ihres Romans hat Véronique Olmi mitunter Schwierigkeiten bereitet, da zu dieser Zeit die Untersuchungsergebnisse zum Fall Anastasia Romanow freigegeben wurden. Olmi musste somit Wahrheit und Unwahrheit vereinen.
Von der Kindheit und dem Erwachsenwerden
Véronique Olmis Heldin Sonja wird in dem einen Jahr, von dem der Roman berichtet, erwachsener, sie wandelt sich vom missmutigen Kind zur neugierigen Jugendlichen und sie beginnt zu begreifen, dass Babuschkas Geschichte auch ihre eigene Geschichte ist. All das erzählt Olmi mit Stilsicherheit und einem scharfen Blick für Details; mal melancholisch, mal humorvoll, aber immer glaubwürdig und nachvollziehbar.
Ein Buch über die Magie der Kindheit und die Einflüsse der Vergangenheit, das dem Leser seine eigenen Kindertage ein bisschen näher bringen kann und ihm, wie Olmi festhält, dabei helfen soll, "diesen exaltierten Zustand der Jugend wiederzufinden, der wie eine kleine Treibjagd ist, wie eine kleine Angst, die uns den Antrieb gibt, etwas zu wagen."
Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
Buch-Tipp
Véronique Olmi, "Die Promenade", Kunstmann Verlag