Die dritte Lebensphase
Altern hat Zukunft
In Österreich gilt der Ruhestand als wohlverdientes Ziel eines arbeitsamen Lebens. Doch die Überalterung der Gesellschaft zwingt zu einer Neubewertung der dritten Lebensphase. Wie können wir die Potenziale der Generation "60 plus" nützen?
8. April 2017, 21:58
Noch nie war die europäische Gesellschaft so alt wie im beginnenden 21. Jahrhundert. Und die Tendenz ist weiter steigend. Die Gesellschaft bekommt den Druck dieser Überalterung zu spüren. Wachsende Probleme bei der Altersversorgung, der Finanzierung des Gesundheitssystems oder der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit sind negative Konsequenzen.
Die Wahrnehmung des "Alters" gestaltet sich daher ambivalent. Das dritte Alter ist einerseits von gesamtgesellschaftlichen Problemstellungen geprägt und andererseits von Sehnsüchten wie Freiheit, Selbstbestimmung und vor allem Ruhe. Doch für viele ältere Menschen ist diese Ruhe nicht wirklich erstrebenswert.
Neue Lebensentwürfe für ein modernes Altersbild
Entwicklung, Wachstum und Kreativität sollen weiterhin das Leben bestimmen. Es muss also darum gehen neue Entwürfe für den Alltag älter werdender Menschen aufzuzeigen, die einem modernen Altersbild entsprechen. Denn Zwischen dem Ausstieg aus dem Erwerbsleben und dem Beginn der Hochaltrigkeit klafft eine immer größere Lücke.
"Die Gesellschaftsordnung und das Sozialsystem gehen vom Bild der glücklichen Pensionisten aus. Ein Bild, das für die Generation 60 plus heute oft nicht mehr zutrifft.", konstatiert die fast 70-jährige und immer noch berufstätige Schweizer Journalistin und Schriftstellerin Klara Obermüller.
Pro-Aging für das Gehirn
Auch aus physiologischer Perspektive ist der Weiterentwicklung im Alter keine Grenze gesetzt. "Das wissenschaftliche Dogma, dass die Anzahl unserer Nervenzellen begrenzt sei, ist gefallen", so der Psychologe und Psychotherapeut Giselher Guttmann. "Das gelehrte Hirn kann in der Rinde bis zu zehn Prozent wachsen." Dass das Altern so oft als Prozess des Verfalls dargestellt wird, vergleichbar mit einer Krankheit, gegen die Medikamente eingesetzt werden müssen, findet Giselher Guttmann erschreckend. "Wir sollten nicht auf Anti-Aging-Strategien setzen, sondern das Pro-Aging forcieren." Eine Einstellung, die der Hirnforscher Gerald Hüther mit seinen Erkenntnissen unterstützt.
Gerald Hüther weiß aus zahlreichen Untersuchungen, dass bei vielen pensionierten Menschen nach der Phase der Erholung und Erledigung ewig aufgeschobener Arbeiten die große Leere kommt.
Die Abhängigkeit von Anerkennung und Erfüllung durch die Erwerbstätigkeit wird spürbar. Der Verlust von Einfluss, Status und Entscheidungsmöglichkeiten äußert sich auf unangenehme Weise. Diese psychische Belastung kann zu unkontrollierbarem Dauerstress werden. Ohnmachtsgefühle und Hilflosigkeit machen sich breit.
Die Folgen sind oft körperlich. Im Gehirn kommt es zur Aktivierung von Notfallreaktionen, die das Herz-Kreislauf-System stark belasten. Cortisol wird vermehrt ausgeschüttet und damit das Immunsystem unterdrückt. Doch wie dem entgegenwirken?
Neue Perspektiven in der dritten Lebensphase
Der Schlüssel zu einer zufriedenen dritten Lebensphase liegt in den eigenen Potenzialen. Ob Erwerbstätigkeit, Universitätsstudium oder kreative Neuorientierung, eine zukunftsorientierte Perspektive schützt vor Depression und Vereinsamung. Dass die Kompetenz älterer Menschen oft gezielt gesucht wird, bestätigt der Historiker Martin Scheutz: "Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt werden durch die Überalterung der Gesellschaft zusehends besser. Viele ältere Menschen machen sich auch selbstständig oder werden als Konsulenten für ihre ehemaligen Arbeitgeber angeheuert."
Auch in der Vermittlung von Kulturtechniken, besonders im Bereich des Handwerks, nimmt die Generation 60 plus eine wichtige Rolle ein. Die Versorgung von Kindern oder die Pflege von kranken Verwandten wäre ohne die unentgeltliche Mithilfe älterer Menschen undenkbar. Für Martin Scheutz ist die Aufkündigung des Generationenvertrages daher nur ein Schreckgespenst, "denn die Gesellschaft kann sich nicht erlauben, das Potenzial der Alten brach liegen zu lassen."
Hör-Tipp
Salzburger Nachtstudio, Mittwoch, 30. September 2009, um 21:01 Uhr
Buch-Tipps
Klara Obermüller, "Ruhestand - nein danke! Konzepte für ein Leben nach der Pensionierung", Xanthippe, Zürich 2005
Ursula Klingenböck, Meta Niederkorn-Bruck, Martin Scheutz (Hrsg.), "Altern hat Zukunft. Alterskonzepte", Studienverlag, Innsbruck - Wien - Bozen, 2009
Franz Kolland, "Bildungschancen für ältere Menschen. Ansprüche an ein gelungenes Leben", LIT-Verlag, Münster, 2005
Amann, A. & Kolland, F. (Hrsg.), "Das erzwungene Paradies des Alters? Fragen an eine kritische Gerontologie", Westdeutscher Verlag, Wiesbaden, 2008
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