Das Leben, ein Drahtseilakt

Die große Welt

Es ist jener Tag im Jahr 1974, an dem Philippe Petit ein Seil zwischen den Türmen des World Trade Center spannte und darauf hin und her spazierte - ein Drahtseilakt, wie das Leben der Bewohner New Yorks, die der Autor hier porträtiert.

In seinem neuen Buch erzählt Colum McCann selbstständig erscheinende und doch miteinander vernetzte und verklammerte Geschichten von Menschen in New York: die Geschichte der Ex-Avantgardekünstlerin Lara, einem "blonden Kind aus besseren Kreisen", die nach Fahrerflucht Gewissensbisse quälen, die sie in die Bronx treiben und schließlich in ein gänzlich neues Leben; die Geschichte der aus Guatemala stammenden Adelita, die sich alleine mit ihren beiden Kindern in New York durchschlägt; die Geschichte des jungen Fernando, der durch die Stadt streift, riskante Fotos von sogenannten "tags" macht, von Zeichen auf Wänden, und von einer Karriere als Fotograf träumt; die Geschichte der schwarzen Bürgerrechts-Aktivistin Gloria, deren Mutter noch eine Quittung besaß über den Verkauf ihrer Großmutter, die alles verlor und Trost findet nur noch in der Oper. "Jeder hockt in seiner kleinen Welt und hat das tiefe Bedürfnis zu sprechen", sagt Gloria, "jeder trägt an seiner eigenen Geschichte, die er an irgendeinem seltsamen Punkt beginnen lässt und dann unbedingt zu Ende erzählen muss, damit sie einen logischen, abschließenden Sinn ergibt."

Und da ist dann noch die Geschichte der Claire Soderberg, Gattin eines angesehenen Richters, Tochter eines Rassisten und Mutter eines im Vietnam-Krieg gefallenen Computerfreaks, die Gloria bei einem Gesprächskreis von Frauen trifft, die wie sie ihr Kind verloren haben. Oder die Geschichte ihres Mannes Solomon Soderberg, der einen Handtrainer in der Hosentasche hat, an dem er sich abreagiert, der den Verlust seines Idealismus und die Trostlosigkeit der Tage beklagt und in New York eine Stadt sieht, die, wie er sagt, "sich nicht für die Geschichte interessierte", die "in einer Art immerwährender Gegenwart lebte".

Geheimes Zentrum Corrigan

Der Seiltänzer Philippe Petit ist die einzige nicht-fiktive Figur seines Romans. Der Franzose spannte einst ein etwa 70 Meter langes Stahlseil zwischen den beiden Türmen des World Trade Center und balancierte vor den Augen einer entgeisterten Menge in 400 Meter Höhe mehrmals zwischen den beiden Türmen hin und her, bis er von der Polizei in Gewahrsam genommen wurde. Das war am 7. August 1974, dem Tag, an dem, bis auf eine, all die traurigen, verrückten Geschichten von Menschen, die aus dem Gleichgewicht geraten sind, spielen, die Colum McCann in seinem Roman erzählt und immer wieder in Bezug setzt zur spektakulären Luftnummer des Akrobaten.

Das geheime Zentrum des Romans aber ist weniger der Künstler Petit, als vielmehr der Ire Corrigan, eine moderne Lazarus-Gestalt, von der McCann zu Beginn seines Romans erzählt: ein Bub aus Dublin, der sich schon früh hingezogen fühlt zur Welt der Penner und Huren, zu Alkohol und Drogen, der sich mit dem Elend solidarisiert und ein verzweifelter, selbstloser Gottsucher wird, der sich, wie ein Mönch, sexuelle Enthaltsamkeit auferlegt, nach New York geht, zum Schutzpatron der Prostituierten wird und Greisen im Rollstuhl den Lebensabend erträglich macht, der seinem Gelübde schließlich untreu wird, sich in eine Frau verliebt und bei einem Autounfall ums Leben kommt. Die Geschichte des seltsamen Corrigan, der nach dem Licht in der Finsternis suchte, ist der Dreh- und Angelpunkt eines bunten Reigens von Porträts, der ein vielstimmiges Zeit- und Stadtbild ergibt.

Wir seien alle Seiltänzer, meint Colum McCann im Gespräch, die nicht runterfallen wollen. Und so zeige er in seinem Buch "das Besondere im Gewöhnlichen".

Am Ende Hoffnung

Es sind rührende, erschreckende und zuletzt doch tröstliche Geschichten, die in Colum McCann ihren großartigen Erzähler finden, Geschichten über Glaube und Verzweiflung, über Kunst und Technik, über Arm und Reich, magische und deprimierende Momente, die der Autor zu einem Roman voll disparater Stimmen verschmilzt, zu einem Roman über New York, das zum Spiegel der großen Welt wird.

So tragisch und verzweifelt all diese Geschichten zunächst auch klingen mögen, am Ende gibt es doch so etwas wie Hoffnung und Versöhnung, finden Menschen zueinander und aus dem Ruder gelaufene Biografien wieder Sinn und Ziel.

"Wir stolpern durch die Gegenwart dahin... Wir stolpern dahin..., tragen ein wenig Geräusch in die Stille und wirken in anderen fort", sagt am Ende, in dem einzigen Kapitel, das nicht im Jahr des Seiltanzes zwischen den Twin Towers, sondern drei Jahrzehnte später spielt, Jaslyn, die Enkelin der Miss Bliss alias Tilly Henderson. "Die große Welt dreht sich. Wir stolpern dahin. Das ist genug."

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Das Buch der Woche, Freitag, 2. Oktober 2009, 16:55 Uhr

Ex libris, Sonntag, 4. Oktober 2009, 18:15 Uhr

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Buch-Tipp
Colum McCann, "Die große Welt", aus dem Amerikanischen übersetzt von Dirk van Gunsteren, Rowohlt Verlag