Wände aus Papier
Das Lied der Prärie
Seien wir einmal fatalistisch. Gehen wir davon aus, dass nichts von dem, was uns heute wichtig ist, morgen noch einen Wert hat. Was wir lieben, ist dann längst zu Staub zerfallen. Aber wir sind immer noch da und warten, bis die Zeit vergeht.
8. April 2017, 21:58
Und dann trittst du wieder vor die Tür, wie jeden Morgen, nach einer Nacht des leichten Schlafs. Light sleeper, immer fluchtbereit, als könnten jederzeit die Wände nach innen rücken und dir die Luft zum Atmen nehmen. Doch jedes Mal, wenn du die Augen öffnest, ist nichts passiert. Es bewegt sich nichts. Jemand tritt das Bremspedal durch, die Räder blockieren.
Die Luft draußen ist trocken und schmeckt nach Metall. Im Staub zu deinen Füßen sind noch die Spuren eines nächtlichen Coyoten eingedrückt. Aus dem abgebrannten Dornbusch erklingt keine Stimme. Du lässt das dunkle Haus hinter dir und stehst im Licht eines Tages, der die exakte Kopie aller Tage ist. Wie soll man da noch an etwas glauben? Keine Stimmen, keine Veränderungen, bloß der ewige Tag- und Nachtrhythmus.
Die kleine Helene Hegemann von schräg gegenüber, die nicht wusste, wie man sich ein Dach über dem Kopf zurechtzimmert, bis sie "Onkel Toms Hütte" gelesen hatte und seither hinter Wänden aus Papier lebt, versucht die Nacht zum Tag zu machen, indem sie die Träume, die sie nicht hat, aufschreibt. Geborgte Träume, sie reimt sich Dinge zusammen, die sie irgendwo aufgeschnappt hat. Aber was erlebt sie denn schon in ihrem Papierhaus, an dem ständig der Wind zerrt? Wenn es dämmert, morgens und abends, geht sie mit ihrem seltsamen Haustier spazieren, ein bleicher Schwanzlurch, der nichts kann außer grinsen. Hirnloser Kaltblütler. Sie gehen hinunter in die versandete Rinne, wo früher einmal ein Fluss war.
Überhaupt: früher. Früher wäre die kleine Hegemann Kinderdarstellerin geworden, beim Film, so wie Sue Lyon. Erinnert sich noch jemand an Sue Lyon? Die minderjährige Blondine aus Davenport, Iowa, mit ihrer herzförmigen Sonnenbrille? Einen einzigen unpeinlichen Film hat sie gedreht, einen Skandalfilm, wie es hieß, dann noch ein wenig Schrott. Irgendwann ist sie verschwunden. Weiß jemand, was mit Sue Lyon passiert ist? Ist sie anorektisch geworden oder bulimisch oder depressiv oder drogenabhängig oder mittellos, wie alle Kinderdarsteller? Heute schreiben die Kinderdarstellerinnen Bücher über die Ereignislosigkeit. Ist das ein Fortschritt? Wer liest überhaupt noch Bücher?
Würde ich nicht jeden Tag das Haus verlassen, wüsste ich nicht, in welche Richtung ich gehen sollte. Es sieht überall gleich aus, flach und trocken. Oft wirbelt der Wind den Staub auf, so dass ich nicht einmal mehr das Papierhaus von Helene Hegemann sehen kann. Du gehst mit geschlossenen Augen, wenn du die Anzahl der Schritte weißt, die zu gehen sind. Und die Richtungswechsel, die bei bestimmten Zahlen nötig sind. Gleich nach Verlassen des Hauses rechts, dann sechsundzwanzig Schritte, dann noch mal rechts, vierzehn Schritte, links, acht Schritte, wieder rechts und so weiter. So komme ich immer an mein Ziel. Heute, morgen und in zwanzig Jahren. Ich könnte darüber Romane schreiben, "Alles über mich" oder etwas in der Art. "Bekenntnisse eines Erfahrungslosen". Mache ich aber nicht.
Zu der Zeit, als es noch Kinderdarsteller gab, die keine Bücher über schlaflose Nächte von Kinderdarstellern schrieben, war ich Qualitätsjournalist. Das ist ein eigenes Genre, oder war es zumindest. Ein Genre, das von der Selbstbehauptung lebte. Those were the days, my friend... Das waren die fetten Jahre, als da noch keine Prärie war, wenn ich aus dem Fenster schaute, sondern eine Gasse mit Gründerzeithäusern und fremden Gesichtern hinter Glas und einer Straßenbahnhaltestelle und einem Supermarkt. Als dieser Kreislauf von Ware und Geld noch funktionierte. Damals war man nicht etwas oder jemand, sondern man schrieb sich eine Funktion einfach zu. Qualitätsjournalist zum Beispiel. Damals musste niemand etwas beweisen, bloß behaupten. Paradiesisch!
Heute gehe ich derselben Arbeit nach wie damals. Aber heute sind die Häuser aus Papier und wo einmal eine Straßenbahn fuhr, weht der Wind über rissigem Grund. Feinstaubalarm! Dass ich nicht lache! Heute bin ich "Meinungseinholer". Ich gehe über die Prärie und hole Meinungen ein. Zu allem. Jeder hortet irgendwo eine Meinung, manchmal als letzte Reserve, meistens aber als unnützes Mobiliar eines zu klein gewordenen Lebens. Ich gehe und hole sie. Man findet sie bei den wenigen verbliebenen pragmatisierten Philosophen und bei den Dichtern des ernsthaften Faches, die mit fiebrigen Augen aus ihren Erdlöchern Ausschau nach dem "Meinungseinholer" halten.
Die ganze Nacht sind sie unterwegs gewesen und haben wie diese Käfer, die Scheiße zu überlebensgroßen Kugeln rollen, Gedankenpartikel zu Meinungskugeln gerollt. Das ist ja alles, was sie können. Die horten sie in ihren Erdlöchern, manchmal jahrelang, und warten, bis ich vorbeikomme, um sie vom Meinungsballast zu befreien. Essen lässt sich das Zeug ja nicht. Auch nicht in den Ofen stecken. Ich höre sie, wie sie mit ihren Obertonstimmen, die nicht jedes Ohr erreichen, das Lied der Prärie singen, um mich anzulocken... Oh carry me back to the lone prairie, where the coyotes howl and the wind blows free... Manche lasse ich zappeln, manche suche ich täglich auf, es kommt, wie es kommt, weil es egal ist, wie es kommt. Ich türme die Meinungskugeln zu Meinungspyramiden auf, weithin sichtbar, allerdings nur an klaren Tagen. Dann trocknen sie aus und fallen zu Meinungshäufchen zusammen, die der Wind davonträgt, weiß der Teufel wohin... And when I die you can bury me neath the western skies on the lone prairie...