K wie Kenosis

Der Affe der Bewegung

Ö1 Literaturredakteur Peter Z. war unlängst in Heidenreichstein bei "Literatur im Nebel". Dort sagte ihm jemand, die gut lachen konnte, etwas, das er nicht verstand. Dann verstand er, dass er damit etwas sagen konnte. Vielleicht hört ihm auch jemand zu.

In einem Gespräch mit der Münchener Literaturwissenschafterin Barbara Vinken vor ein paar Tagen fiel das Wort Kenosis. Das sagte mir gar nichts.

Alexander Kluge, Peter Sloterdijk oder meinetwegen auch Peter Weibel hätten wissend genickt und aus dem Stand etwas erwidert wie: Ja eben, die Beharrungskraft des Kastrationskomplexes wird durch die Erkenntnis des Erwachsenen von der sexuellen Differenz nicht gebrochen.

Ich habe halt nur geschaut und dann auch genickt, aber nur deshalb, weil ich nicht zugeben wollte, dass ich eben nicht Alexander Kluge, Peter Sloterdijk oder Peter Weibel bin. Wenn man sich nicht ganz dumm anstellt und die eine oder andere Blendgranate dabei hat, die man im richtigen Moment zündet (seit Sartre und Rancière, liebe Frau Vinken, ist mir keine überzeugendere Lesart Flauberts untergekommen!), wird möglicherweise noch mit der Bemerkung belohnt, dass man aber ganz besonders kluge Fragen gestellt habe. So läuft das in unserer Branche. Lauter Trickser. Bloß die Kohle vom Meischberger kriegen wir nicht dafür. Ich würde sie sogar sofort versteuern.

Es gibt auch Gesprächspartner, die machen einen ratlos. Oder eher mutlos. Wenn es sich nämlich um an und für sich kluge Menschen handelt, denen plötzlich ein richtig dummer Fehler unterläuft. Gut, denke ich mir, hat sich halt versprochen, das kann man schneiden (wir sind im Radio). Aber dann wiederholt sich der Fehler. Und er wiederholt sich wieder, und es wird einem bewusst, dass es das Gegenüber nicht besser weiß, dass es tatsächlich mit bestem Wissen und Gewissen das Falsche sagt. Wie soll man da reagieren?

Wolf Biermann hat in einem Gespräch etwa ständig opus mangnum gesagt statt opus magnum. Marlene Streeruwitz hat aus Hugo von Hofmannsthals Brief des Lord Chandos (englischer Name, also Tschändos) mehrfach den Brief des Lord Schondoo (Chandos französisch ausgesprochen) gemacht. Das sind sehr unangenehme Situationen, weil ich ungern einen auf Bildung mache und Menschen, die wissensmäßig ins stolpern geraten, deshalb selten auffange. Ich schaue zu, wie sie hinfallen und bin peinlich berührt. Dabei weiß ich doch selbst nicht, was Kenosis ist!

Ich habe den Sohn unserer Nachbarn im Glauben gelassen, der Sänger der Rolling Stones heiße Maik Jäger. Ich habe meinen Großvater von Karli-Kaplihn-Filmen erzählen lassen und eine ehemalige Freundin nicht aufgeklärt, als sie meinte, der Philosoph Leibniz stamme aus Leibnitz in der Südsteiermark. Es musste mich schon ein Museumsdirektor mit Herr Vogel ansprechen, und zwar mehrfach, ehe ich mir einen Ruck gab und protestierte.
Mein Name ist nicht Vogel!
Entschuldigen Sie, Herr - äh - Vogel.

Gut, bin ich halt der Herr Vogel. Meine Großmutter verwechselte mich auch immer mit meinem Bruder. Die Kränkungen der Kindheit werden zur Normalität der späteren Jahre.
Ich wäre ein schlechter Journalist, hätte ich zuhause nicht Kenosis gegoogelt. Und weil Google weiß, was Googler wünschen, bieten die gleich einmal den passenden Wikipedia-Eintrag an:

Kenosis (griechisch: Leerwerden, Entäußerung) ist das Substantiv zu dem von Paulus im Brief an die Philipper gebrauchten Verb ekenosen: er entäußerte sich (Phil. 2, 7). Über Jesus ausgesagt, bedeutet der Begriff den Verzicht auf göttliche Attribute bei der Menschwerdung. Darüber hinaus kann er das Leerwerden des einzelnen Gläubigen für den Empfang der göttlichen Gnade bezeichnen.

Gut zu wissen, finde ich. Da fiel mir nämlich gleich die Sorge ein, die sich bürgerliche Medien zur Zeit über die Sozialdemokratie machen. Das eigentliche Problem ist, dachte ich, dass sich Sozialdemokraten keine Sorge über die Sozialdemokratie machen. Das ist überhaupt die Wurzel des Übels: dass sich da jemand so sehr auf der richtigen Seite fühlt, dass er gar nicht mehr über seine Verortung respektive seinen Standpunkt nachdenkt. Deshalb ist ihm auch die Handypeilung durch die Polizei ganz Recht. Sollte er sich einmal wirklich verloren fühlen, holt man ihn mit Blaulicht ab, tatü tata, dort oben im vernebelten Heidenreichstein zum Beispiel, wo das Elend der Sozialdemokratie untersuchbar wird wie der H1N1-Virus auf dem Objektträger eines Mikroskops.

Der Tod der Linken ist der Bourgeois, also: der sozialdemokratische Bourgeois, der sich weniger durch Geld als vielmehr durch Kultur definiert, durch Hochkultur, genau genommen, oder noch genauer: durch die Besetzung klassisch bürgerlicher Positionen im Kulturbetrieb. Kultur ist eine Lebensform für den bildungsbürgerlichen Aufsteiger, eine Hohlform, die so lange mit abgeschauten Gesten gefüllt wird, bis sie zur Maske erstarrt. Das herablassende Lächeln des Bürgers wird zur Grimasse des sozialdemokratischen Bourgeois. Er ist der Affe einer Bewegung, deren Ziel Emanzipation war. Die Entwicklung ist rückläufig verlaufen: am Anfang war der Mensch, schließlich war der Primat, dessen höchste Leistung die Nachahmung ist.

Im affigen Heidenreichstein nun könnte man die Umkehr einleiten - Kenosis einfordern: das Leerwerden, die Entäußerung, die vollkommene Neuerfindung einer Gegenbürgerlichkeit. Nicht erneuern, sondern noch einmal anfangen.

Und Barbara Vinken kann nicht bloß tolle Wörter sagen, sie kann auch gut lachen.