Erinnerungen an ein Miteinander

District Six

Ein Neubau, daneben eine alte Kirche, ein Stück weiter eine kleine Moschee - sonst nichts. Auf dem Stadtplan von Kapstadt ist der zentrumsnahe grüne Fleck so beschriftet: Area to be redeveloped - Sanierungsgebiet - Klammer auf: District Six - sechster Bezirk.

Im District Six von Kapstadt lebten bis 1975 sechzig- bis siebzigtausend Menschen. In kleinen Häusern entlang von etwa 120 Straßen und Gassen. Dann kamen die Bulldozer. Noor Ebrahim hat den Wagen am Hinterausgang der technischen Universität abgestellt und zeigt mit dem Finger vor sich auf den asphaltierten Parkplatz.

"Hier verlief die Caledon Street. Und mein Haus stand hier, genau hier. Zwei Etagen, vier Schlafzimmer. Vier Generationen wurden in diesem Haus geboren. Mein Großvater war Inder, meine Mutter Schottin. Mein Großvater hatte vier Frauen und 30 Kinder. Dreißig. Er war ein sehr fleißiger Mann. Alle 30 wurden in diesem Haus geboren."

Multikultureller Stadtteil

Die Ausstellung im District-Six-Museum, für das Noor Ebrahim heute arbeitet, zeigt: Der sechste Bezirk war eine vibrierend lebhafte Stadt in der Stadt mit einem einzigartigen Bevölkerungsmix. Schwarze Arbeiter, weiße Immigranten, Kaufleute und Handwerker, Künstler und Politiker, Geschäftsleute und Jazz-Musiker, Scheichs und Priester, Hausfrauen und Gangster und jede Menge Kinder. Multikulturell, vielfarbig, multireligiös.

"Es war eine sehr vertraute Gemeinschaft. Uns waren die Hautfarbe und die Religion des Nachbarn egal. Meine glücklichsten Erinnerungen an den sechsten Bezirk, speziell für mich als Moslem: Fast jeden Sonntag betete ich mit den Christen in ihrer Kirche, warum nicht? Ich betete auch mit den Hindus und in der Synagoge mit den Juden, warum nicht? Und wenn ich in meine Moschee ging, kamen meine jüdischen, christlichen und schwarzen Freunde mit in die Moschee. Deshalb war der sechste Bezirk ein so wunderbarer Ort."

Der bunt gemischte District Six war dem Apartheid-Regime ein Dorn im Auge. 1964 beschloss Wohnungsminister P.W. Botha - er wurde später Premier und wurde wegen seiner hartnäckigen Verfolgung politischer Gegner "Das Große Krokodil" genannt - die Neuplanung und den Neubau des sechsten Bezirks. Dennoch dauerte es noch neun Jahre, bis die Bagger alles platt machten.

"Als die 1975 mein Haus niederwalzten, stand ich hier und sah zu und weinte. Ich war wütend, so wütend, aber wir konnten die Regierung nicht davon abhalten."

Städtische Neuorganisation

Die Regierung berief sich auf niemand geringeren als den radikalen Stadtplaner Le Corbusier, der drastische Mittel für die städtische Neuorganisation befürwortet hatte. Nur auf einem aufgeräumten Gelände könnte man einen urbanen Neustart hinlegen. Und District Six sei ohnehin eine "G'stätten".

"Sie sagten, der sechste Bezirk sei ein Slum. Das war er nicht. Und wenn, hätten sie was dagegen tun können: die Häuser renovieren. Das taten sie nicht, sie wussten, das ist kein Slum."

Aber man wusste: das ist ein super Baugelände. Ein sanft ansteigender sonniger Südhang, mit einem tollen Ausblick, nach hinten auf den Tafelberg, nach vorn auf den Hafen und den Atlantik.

"Sie wollten, dass sich die reichen Weißen hier schöne Häuser hinbauen. Mit dem Luxus, nahe am Arbeitsplatz, nahe am Zentrum zu sein. Es sind ja nur ein paar Minuten Fußweg dahin."

Die Ausgesiedelten bekamen neue Wohnflächen zugewiesen, wo sie sich neue Hütten hinbauen sollten. Dabei wurden auch Familien auseinandergerissen, erzählt Noor Ebrahim. Das Haus seines Freundes stand hier gegenüber.

"Mein Freund war das, was die Regierung 'farbig' nannte. Seine Frau war schwarz. Sie hatten drei Kinder. Nachdem sie von hier vertrieben wurden, durften sie nicht länger zusammen leben. Die Mutter musste mit den Kindern in eine schwarze Township, der Vater in eine für Farbige, nach Mitchels Plain, 35 Kilometer von seinem Arbeitsplatz."

Aus unerfindlichen Gründen wurde auf dem plattgewalzten District Six nichts Neues errichtet. Der Abriss war ein humanitäres und ein urbanistisches Desaster. Nur die technische Universität wurde an den Rand des Geländes gebaut, den Rest überwucherte bald die grüne Wiese. 20 Jahre nach der Vertreibung der District-Six-Bewohner, mit dem Ende der Apartheid 1994, wurde allen Vertriebenen das Recht auf Rückkehr oder eine finanzielle Entschädigung garantiert. Ähnliche Vertreibungen hatte es auch an anderen Orten Südafrikas gegeben. Die finanzielle Entschädigung belief sich in der Regel auf 60.000 Rand, das sind knapp 6.000 Euro.

Warten auf Rückgabe der Grundstücke

"Von den 70.000 Einwohnern des sechsten Bezirks wollten nur 15.000 wieder zurückkommen. Ich habe gesagt, nein, ich will kein Geld, ich will mein Land. Egal wo im District Six, Hauptsache im District Six."

Seit 15 Jahren wartet Noor Ebrahim jetzt auf die Landrückgabe. Mit einem Federstrich wurde den Leuten hier das Land weggenommen, aber es zurückzubekommen gleicht einem bürokratischen Albtraum. Die Regierung betreibt ganz offenbar eine Verzögerungstaktik und hofft augenscheinlich, dass sich die Probleme biologisch lösen, also dass die Anspruchsberechtigten wegsterben. Im Juni 2005 haben die ersten 24 Familien neue einstöckige Häuser im District Six beziehen können. Nelson Mandela übergab persönlich die Hausschlüssel. Aber seither wird hier nichts mehr gebaut.

"Die Leute, die hier eingezogen sind, sind alle schon 70, 80 oder 90 Jahre alt. Sie mussten 60.000 Rand für die Häuser bezahlen, das ist sehr billig, das ist gar nichts. Die nächsten 140 werden wohl 150.000 zahlen müssen, aber das ist immer noch billig."

Bloß: Es wird hier nichts gebaut. Am Rande des Bezirks ist wohl seit 2007 ein Baugelände abgesteckt und ein großes Schild kündigt die Errichtung eines Red Brick Buildings an, eines Wohnkomplexes mit Solarpaneelen und Abwasser-Recycling, aber es wird nicht gebaut. In unfreiwilliger Ironie steht auf dem Schild: "Consider it done", betrachten Sie es schon als errichtet. Viele fragen sich auch, ob dieses verdichtete Wohnen in einem großen Komplex den einstigen Bewohnern kleiner Häuser überhaupt entspricht. Aber Noor Ebrahim ist Optimist.

"Sie werden auch ein paar kleine Läden herbauen. Vor allem die Inder hatten im District Six viele kleine Geschäfte. Das wollen wir wieder so haben. Und vielleicht einen Park für die Kinder. Und ein Kino. Wir hatten hier vier Kinos. Aber wir wollen keinen Supermarkt für die Reichen wie 'Pickandpay', das brauchen wir hier nicht. Unsere eigenen Leute sollen ihre kleinen Läden hier betreiben."

Noor Ebrahim wurde mit 31 Jahren aus dem Distrtict Six vertrieben.

Als er 50 war, wurde ihm die Rückkehr versprochen. Jetzt ist er 65 und sagt: "Ich möchte jedenfalls noch zurückkommen, bevor ich sterbe."