Eine Bilanz zum 110. Jubiläum der Freudschen Traumdeutung

Der Stoff, aus dem die Träume sind

Träume machen Sinn und ihr Sinn erschließt sich allein aus dem Unbewussten des Träumers. Mit seinem Buch “Die Traumdeutung”, erschienen am 4. November 1899, legte Freud eine neue Sicht der Träume vor. Seit 100 Jahren ist sie umstritten.

Am 4. November 1899 erschien Freuds Buch Die Traumdeutung. Ein schlichter Titel, groß in seiner Anspruchslosigkeit. Das Buch ging schlecht. Neun Jahre dauerte es, bis die erste Auflage von 600 Exemplaren verkauft war. Aber 110 Jahre später muss man sagen: Dieses Buch begründete Freuds Weltruhm. Es wurde ein Jahrhundertwerk. Und daher war es sehr weitsichtig, dass das Buch vordatiert wurde: auf das Erscheinungsjahr 1900.

Freuds Sicht der Träume

Schon immer haben Menschen Träumen einen Sinn gegeben. In der griechischen Mythologie lagerten die Träume an den Ufern des Acheron in der Unterwelt. Von dort stiegen sie zu den Menschen auf. Traumdeutung hieß: Die Botschaften eines eigenständigen Traums zu entschlüsseln, die aus einer anderen Welt überbracht werden und sich jedem Träumer mitteilen können.

Freud hingegen bezog den Traum radikal auf den Träumer: Die Unterwelt des Traums ist das Unbewusste des Träumers. Seine Botschaften kommen von dort.

Träume drücken unbewusste Wünsche aus und verschlüsseln diese Wünsche. Wie die Symptome einer Neurose stellen sie Freud zufolge einen Kompromiss dar zwischen den unbewussten Wünschen des Träumers und deren Abwehr. Wer den Traum entschlüsseln kann, entschlüsselt daher das Unbewusste des Träumers.

Freuds genialer Gedanke zur Deutung der Träume war, den Prozess der Verschlüsselung rückwärts abzuwickeln, um aus dem erzählten Traum dessen unbewusste Inhalte zu erschließen. Das geschieht vor allem auf dem Weg, dass der Träumer alles mitteilt, was ihm zu dem Traum und dessen einzelnen Teilen einfällt, durch die freie Assoziation.

Selbsterforschung als Wissenschaft

Freud ging diesen Weg in der Traumdeutung für sich selbst. In dem Buch analysiert er etwa 150 fremde und 50 eigene Träume und begründete somit eine neue, hermeneutische Forschungsmethode: die systematische Analyse des Subjektiven, die zum Verstehen von Sinn führt. Es gibt keine objektive Richtigkeit einer Traumdeutung. Sie ist richtig, wenn sie für den Träumer schlüssig ist.

Diese Ansicht war wie die ganze Psychoanalyse Freuds, deren Grundzüge er in der Traumdeutung bereits entwickelte, in der empirischen Wissenschaft im 20. Jahrhundert höchst umstritten. Naturwissenschaftliche Psychologen und Physiologen griffen Freuds Traumlehre an. Als man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den REM-Schlaf entdeckte, hieß es: Träume sind Hirngewitter, die von der Brückenregion des Stammhirns ausgelöst werden.

Moderne Traumforschung

Der Neurologe Mark Solms fand aber heraus: Menschen, die aufgrund von Verletzungen im Stammhirn keinen REM-Schlaf haben, verlieren nicht unbedingt die Fähigkeit zu träumen. Ist hingegen ein anderer Hirnteil, der als meso-kortikales Dopamin-System beschrieben wird, verletzt, berichten die betroffenen Menschen keine Träume. Entweder weil sie nicht träumen oder weil sie ihre Träume nicht erinnern können.

Dieser Hirnteil hat im Wachzustand mit Prozessen der Motivation, des Fühlens und des Gedächtnisses zu tun und damit, Bedeutungen zu suchen. Das passt zumindest zu Freuds Theorie, auch wenn es sie nicht beweist. Die neurophysiologische Widerlegung von Freuds Traumtheorie ist heute mehr als fraglich.

Und auch die experimentalpsychologische Forschung stützt heute einige seiner Annahmen. Vielfach bestätigt werden konnte, dass im Traum so genannte “Tagesreste” verarbeitet werden. Zeigt man Menschen im Labor vor dem Einschlafen einen unterschwelligen Reiz, den sie bewusst nicht wahrnehmen können, träumen sie in der Nacht zuweilen davon.

Das Unbewusste beschäftigt sich also in der Nacht mit dem, was am Tag aufgenommen wurde. Aber es denkt nicht logisch und zeitlich wie am Tag, sondern assoziativ, gefühlsmäßig und zeitlos. Daher kommen Träume wie Filme daher, in denen Erlebtes aus allen Lebenszeiten mit Ängsten, Phantasien und Bildern zu bizarren Geschichten verwoben wird. Das Drehbuch dieser Filme schreibt das Unbewusste. Aber meist wissen wir nicht einmal, welches Kino wir nachts im Kopf besucht haben.

Service

Mertens, W., "Traum und Traumdeutung", München: Beck, 2009

Schredl, M., Rüschemeyer, G., "Träume. Die Wissenschaft enträtselt das nächtliche Kopfkino", Berlin: Ullstein, 2007