Warum sich der Süden erst jetzt erhebt
Der Hass auf den Westen
Den Missstände der Welt begegnet Jean Ziegler mit Verve und Unerschrockenheit. In seinem neuen Buch geht er der Frage nach, warum der geknechtete Süden sich erst jetzt gegen den Westen zu erheben beginnt. Für Ziegler ist die Revolte jedenfalls da.
8. April 2017, 21:58
Der Mann wirkt immer noch wie ein Getriebener, ein Gehetzter. Auch mit 75 Jahren ist Jean Ziegler ständig in der Welt unterwegs. Kuba, Kongo, Bolivien, Vereinte Nationen - überall scheint Ziegler zugleich zu sein. Diese Rastlosigkeit überträgt sich auf seine Bücher. Ein aggressiver Philanthrop, könnte man sagen, ein Drachentöter, der mit feuriger Lanze auf jedes Unrecht losgeht, das sich ihm in den Weg stellt.
Der Hunger zum Beispiel. Der ehemalige UNO-Berichterstatter erträgt es einfach nicht, dass durch Unterernährung jedes Jahr 55 Millionen Menschen sterben - fast ebenso viele Menschen, wie im gesamten Zweiten Weltkrieg getötet wurden. "Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren", erinnert Ziegler, "Hunderttausend Menschen sterben am Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen jeden Tag. Die armen Völker, das sind 4,9 Milliarden Menschen, leben in einem der 122 Ländern des Südens. Dort wird gestorben. Da ist der Dritte Weltkrieg im Gang, rein statistisch."
Ziegler liebt die Provokation. Aber viele seiner Anklagen sind wohl begründet. Seit 2007 schnellten die Preise für Reis und Weizen auf dem Weltmarkt um über 60 Prozent in die Höhe - nicht etwa durch Naturkatastrophen, sondern vor allem durch Spekulationen an den Weltbörsen.
Das Wort als Waffe
Diesen Zynismus des sogenannten freien Marktes legt Ziegler genüsslich bloß. Das Skalpell, das er dazu benutzt, ist eine Wissenschaft, von der wir eigentlich glaubten, sie habe ihre Hochzeit seit 1968 hinter sich: die Soziologie: "Ein Intellektueller existiert immer nur in der Allianz mit der sozialen Bewegung. Und ein Buch ist gut, wenn es sozial nützlich ist. Das ist einfach eine Waffe." Ziegler erinnert an Pierre Bourdieu, demzufolge Soziologie ein Kampfsport sei. Er selbst sehe sie als Befreiungsbewegung.
Ziegler stellt unbequeme Fragen. Die neoliberale Wahnidee, dass es "objektive Marktkräfte" gebe, die wie Naturgesetze alles im Gleichklang hielten sei ein Irrsinn, den inzwischen jedermann begriffen habe. Heute, sagt er, stehen die Bankiers vom Schlage der Lehman Brothers oder auch gewisser deutscher Großbanken am Pranger - als Verbrecher und Wegelagerer, ereifert sich der Autor.
Der Aufstand der Verdammten ist da
Jahrhundertelang habe der Westen einen ökonomischen Krieg gegen die Länder des Südens geführt. Eroberungsfeldzüge, Kolonialismus, Zerstörung der indigenen Kulturen.
Auf die Epoche des Kolonialismus sei eine neue Form der Sklaverei gefolgt, die wirtschaftliche Abhängigkeit, erkauft mit der Korruption der einheimischen Eliten. Doch jetzt, so Ziegler, gebe es eine Gegenbewegung. Eine neue Zeit. Die Völker des Südens seien nicht mehr bereit, sich der hegemonialen Ökonomie und Moral des Westens zu unterwerfen. Der Aufstand der Verdammten dieser Erde, die Revolte, von der Frantz Fanon träumte, sie ist da. Jedenfalls nach Ziegler.
Ein eklatantes Beispiel: Ende 2007 besuchte der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy Algerien. Unterzeichnet werden sollten Verträge über die Förderung von Erdöl. Alle Verträge lagen unterschriftsreif auf dem Tisch, doch einen Moment vor der feierlichen Zeremonie erhebt sich der algerische Präsident Bouteflika und sagt zu Sarkozy: "Ich will eine Entschuldigung für Sétif." In der Stadt Sétif waren 1945 nicht weniger als 40.000 Algerier bei Protesten gegen die französische Kolonialherrschaft niedergemetzelt worden, ein unfassbares Massaker der französischen Luftwaffe und der Fremdenlegion. Daraufhin entgegneteSarkozy, er sei nicht aus nostalgischen Gründen gekommen. Bouteflika erwiderte, dass das Gedächntis vor dem Geschäft komme. "Und es gab keine Verhandlungen, bis heute nicht. Das ist doch etwas radikal Neues", betont Ziegler.
Das verwundete Bewusstsein
Warum bricht die Revolte des Südens ausgerechnet jetzt los? Nach Jahrhunderten der Sklaverei, des Kolonialismus, der Kriege, der bedingungslosen Ausbeutung dieser Länder und ihrer Ressourcen? Das hängt, so Ziegler, mit der Struktur der menschlichen Erinnerung und unseres Gedächtnisses zusammen. Und da spricht Ziegler vom sogenannten "verwundeten Bewusstsein."
Wenn ein Mensch (oder auch eine soziale Gruppe) traumatisiert worden ist, dann kann er davon zunächst meist nicht sprechen, das Thema wird gleichsam tief im Gedächtnis abgelegt. Ein gutes Beispiel ist der Holocaust. Unmittelbar nach 1945 wurde über den Holocaust in der Öffentlichkeit so gut wie nicht geredet, weder in Deutschland noch in den Nachbarländern, ja nicht einmal in Israel. Erst Mitte der Siebziger Jahre wird der Holocaust in Israel zu einem zentralen Element des Bewusstseins. (Offenbar können Menschen ihre Traumata nicht gleich nach den Ereignissen verarbeiten. Diese werden eine Zeitlang verschwiegen. Eine These, die auch Elie Wiesel in seiner Autobiographie "Alle Flüsse fließen ins Meer" überzeugend dargelegt hat.)
Jetzt, so Ziegler, bricht das "verwundete Gedächtnis" hervor - und verändert die Welt radikal.
Mit Evo Morales durch Bolivien
Zum Beispiel Bolivien. Dort ist erstmals ein Indio zum Staatspräsidenten gewählt worden. Gegen den Widerstand des ausländischen und inländischen Kapitals. Evo Morales, ein Mann aus der verfemten, verachteten Gruppe der Aymara, hat sogleich die vielleicht weitreichendste Maßnahmen zur Umverteilung des Reichtums ergriffen, die jemals durchgesetzt wurde. Jetzt müssen die internationalen Konzerne 82 Prozent ihrer Profite an den bolivianischen Staat abführen - früher waren es 6 oder 7 Prozent. Aber die Unternehmen zahlen - zähneknirschend -, denn sie machen immer noch Gewinn.
Jean Ziegler ist mit Morales durch dessen Land gefahren: "Bolivien war ja das zweitärmste Land hinter Haiti. Und ist jetzt im Begriff, ein komplett anderes Land zu werden. Kein Hunger, Spitäler werden gebaut, die Unterernährung geht zurück. Ich habe hier die Zahlen vom Weltwährungsfond - das ist ja nicht gerade ein Freundeskreis von Revolutionären. Unglaublich, wie die Fortschritte sind, gestützt auf diese Wiederauferstehung, die Verwandlung des verwundeten Gedächtnisses."
Ein polemischer Ankläger
Vielleicht ist Jean Ziegler ein wenig zu optimistisch. Vielleicht ist er sogar ein wenig naiv. Es könnte sein, dass die Fortschritte in Bolivien bald zunichte gemacht werden und dass Evo Morales endet wie viele seiner Vorgänger: als brutaler Diktator - oder entmachtet.
Jean Ziegler neigt zur Glorifizierung des Südens, er nimmt eindeutig Partei für die Afrikaner und Lateinamerikaner, und manchmal scheint es in seinen Büchern, als hätten sich alle Schurken der Welt im Westen und alle Gutmenschen in der südlichen Halbkugel versammelt.
Aber vielleicht braucht es auch einen polemischen Ankläger und Staatsanwalt wie Jean Ziegler. Wer in Europa nimmt die Völker des Südens überhaupt ernst? Vielleicht muss man dann etwas lauter reden, um überhaupt Gehör zu finden. Und um einen Westen zur Verantwortung zu ziehen, der doch recht selbstherrlich mit sich der Welt umgeht.
Der Westen, rechnet Ziegler vor, begründet seine angebliche Überlegenheit mit zwei Säulen. Der sogenannten freien Marktwirtschaft und der Einhaltung der universalen Menschenrechte.
Nun ist der "freie Markt" längst entzaubert. Und die Menschenrechte? Nehmen wir es mit ihnen immer so genau? Klar, es ist leicht und billig und wohl auch richtig, Länder wie China oder den Iran anzuprangern. Aber was geschieht in Saudi-Arabien oder in Gaza?
Es besteht wenig Grund zur Selbstzufriedenheit im aufgeklärten, ach so liberalen Westen. Diese unliebsame Wahrheit schlägt uns Jean Ziegler unmissverständlich um die Ohren: "Es gibt keinen internationalen Gerichtshof für Menschenrechte. Die einzige Validität, die die Menschenrechte haben, ist die Glaubwürdigkeit des redenden Subjekts. Und diese Glaubwürdigkeit wird vom Westen ständig zerstört, wenn die Nachkommen von Jefferson und Franklin foltern und der neue Präsident sich weigert, die Folter zu verfolgen."
Das verwundete Gedächtnis der Völker des Südens - es wird sich nach Jean Ziegler nicht zum Schweigen bringen lassen. Je mehr wir es verdrängen, desto mehr droht es Europa heimzusuchen. Möglicherweise auch mit Gewalt. Und deshalb ist "Der Hass auf den Westen" ein notwendiges Buch.
Service
Jean Ziegler, "Der Hass auf den Westen", aus dem Französischen von Hainer Kober, C. Bertelsmann