Die Spuren der Gewalt
Blick nach Kolumbien
Man kann ihn zu den ganz Großen der Weltliteratur zählen: Gabríel García Marquez. Und man könnte, beeindruckt durch seine Präsenz, alle anderen vergessen, die auch in Kolumbien leben und schreiben. Alvaro Mutis. Santiago Gamboa. Jorge Franco.
8. April 2017, 21:58
Die Spuren der Gewalt
Man kann ihn zu den ganz Großen der Weltliteratur zählen: Gabríel García Marquez. Und man könnte, beeindruckt durch seine Präsenz, alle anderen vergessen, die auch in Kolumbien leben und schreiben. Alvaro Mutis. Santiago Gamboa. Jorge Franco.
Auf der imaginären Weltkarte der Literatur ragt aus der kolumbianischen Gegend die Gestalt von Gabríel García Marquez auf: riesig, nahezu übermächtig erfüllt sie den Raum am linken oberen Eck des südamerikanischen Kontinents. Aber wenn man ganz genau hinsieht, kann man auch die anderen schreibenden Kolumbianer erkennen.
Genauer Beobachter Mauricio Botero
Den sanftmütigen Musikliebhaber und genauen Beobachter Mauricio Botero etwa. In seiner Heimat liebt man ihn und seine feinsinnigen Werke. 2001 wurde er für die im Band "Don Ottos Klassikkabinett" versammelten einunddreißig Miniaturen mit dem hochrangigen Premio Nacional de Cuente ausgezeichnet. Einunddreißig Mal ist Musik der Anlass, um unterschiedlichste Menschen auf der Suche nach ihrer Musik zu beobachten. Und Vorurteile abzubauen.
Dass etwa Punks nur wilde laute stampfende Musik mögen. Oder dass es Johann Sebastian Bach sein muss, dessen Musik einem behinderten Kind Linderung bringt. Und dass Bruckners Romantische Sinfonie in den letzten Tagen von Berlin eine ungeahnte politische Dimension erhielt. Was sein Gegenüber, eine junge Frau, zu der Bemerkung provoziert: "In einer Welt von Wasser, wer merkt da schon, wenn der Schwertfisch weint?"
Literatur und Gewalt
Einer der ganz Großen neben Gabríel García Marquez ist um fünf Jahre ältere Álvaro Mutis, dessen erste Veröffentlichung, ein Gedichtband, der Gewalt zum Opfer gefallen ist, die dieses Land so regelmäßig heimsucht wie die Sommersonnenwende. Am 8. April 1948 verteilte er mit seinem Freund und Ko-Autoren Carlos Patiño die Büchlein eigenhändig an ihre Buchhändlerfreunde in Bogotà. "Am nächsten Tag", erinnert er sich, "war unsere Publikation aufgrund eines Feuers vergriffen: denn am 9. April kam es zum blutigen Massenaufstand, dem 'Bogotazo'. Das Stadtzentrum wurde nach der Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán von wütenden Anhängern in Flammen gesetzt."
Schon in diesen ersten Gedichten stellt Mutis sein Alter Ego vor: Maqroll den Gaviero. 1986 überarbeitete er die französische Übersetzung eines Prosagedichts mit dem Titel "Der Schnee des Admirals". "Das war gar kein Gedicht, dies war ein Roman", fiel ihm auf. "Müde und ergeben zuckte ich die Achseln und sagte mir: dann schreibe ich die Geschichte also fertig. Ich setzte mich an den Schreibtisch, begann zu erzählen, mehr, mehr und noch mehr, und dann waren es fast dreihundert Seiten." Die Abenteuer dieser nomadischen, rätselhaften Gestalt, des Spähers im Mastkorb, faszinierte die Leser und ihn selbst so sehr, dass Mutis in den nächsten fünf Jahren sechs weitere Bücher über Maqroll den Gaviero schrieb.
Erotische Geschichten
Das Thema Gewalt zieht sich durch alle Romane und Kurzgeschichten Kolumbiens, sogar in den erotischen Geschichten der Fanny Buitrago ist sie unterschwellig vorhanden. Liebe ohne Gewalt scheint gar nicht möglich zu sein. Dass Jorge Franco in seinem Roman Rosario Tijeras ausgerechnet die Liebesgeschichte einer Auftragskillerin erzählt, kann (fast) gar nicht mehr erstaunen. Aber wie er erzählt, wie er vom verzweifelten Wunsch nach einem normalen Leben erzählt, wie er uns die Verzweiflung nahe bringt, die diese junge Frau nach jedem Auftrag verspürt, und die Wut, die sie aufrecht hält, antreibt und schließlich verzehrt, das geht an die Nieren.
Kaum ein Krimi kommt ohne Gewalt aus. Aber dieser eine Krimi von Santiago Gamboa, "Verlieren ist eine Frage der Methode", lässt das wahre Ausmaß der Gewalttätigkeit, von der die kolumbianische Gesellschaft beherrscht wird, erahnen. Sogar die Nudisten, die in unseren Breiten zu den friedlichsten Zeitgenossen zählen, schrecken nicht vor en passant begangenen Brutalitäten zurück. Und auch sein neuester auf Deutsch erschienener Roman "Blender" setzt sich mit Gewalt auseinander, selbst wenn es "nur" um die Suche nach einem wertvollen Manuskript geht. Aber es ist eben die Gründungsschrift der mächtigen und gewalttätigen Sekte der Boxer, bekannt aus dem berüchtigten Boxeraufstand 1900 in Peking.
Service
Mauricio Botero, "Don Ottos Klassikkabinett", Unionsverlag
Álvaro Mutis, "Die Abenteuer und Irrfahrten des Gaviero Maqroll", alle sieben Romane in einem Band, Unionsverlag
Fanny Buitrago, "Herrin des Honigs", Blanvalet
Jorge Franco, "Rosario Tijeras", Unionsverlag, Hardcover; bzw. "Die Scherenfrau" (so der Titel des Unionsverlag-Taschenbuchs)
Santiago Gamboa, "Verlieren ist eine Frage der Methode", Wagenbach
Santiago Gamboa, "Das glückliche Leben des jungen Esteban", Wagenbach
Santiago Gamboa, "Die Blender", Wagenbach