Labe Dich im Wirrwarr
Kühn und wild
Carl Philipp Emmanuel Bachs Symphonien aus seiner Hamburger Zeit überraschen in ihrer Kühnheit und Wildheit. Ungezwungen ließ er seiner Vorstellungskraft freien Lauf, ohne Rücksicht auf technische Schwierigkeiten, Form, Konvention und Tradition.
8. April 2017, 21:58
Der dritte Satz der Symphonie Wq 182 im Vergleich
Nach fast dreißigjähriger Dienstzeit in Berlin bei Friedrich dem Großen wurde Carl Philipp Emanuel Bach 1768 Nachfolger seines Taufpaten Georg Philipp Telemann in Hamburg als Musikdirektor der fünf wichtigsten Stadtkirchen und Kantor des Johanneum-Gymnasiums.
Hier entstanden zwei Symphonie-Zyklen: sechs Symphonien für Streicher und Cembalo (1773) und "Vier Orchester-Symphonien mit zwölf obligaten Stimmen" (1775/6). Die Tonsprache dieser Symphonien überraschen in ihrer Kühnheit und Wildheit. Hin und wieder hat man das Gefühl, Bach - von den Diensten beim Preußen-König befreit - tobt sich aus.
Der Vorstellungskraft freien Lauf gelassen
Zudem hatte der österreichische Botschafter in Berlin, Baron Gottfried van Swieten, die sechs Symphonien für Streicher mit der Bemerkung in Auftrag gegeben, Bach solle "seiner musikalischen Vorstellungskraft freien Lauf lassen, ohne auf die Schwierigkeiten Rücksicht zu nehmen, die daraus für die Ausübung nothwendig entstehen müssen."
Die ausführlichste, wahrscheinlich auch kompetenteste zeitgenössische Charakterisierung dieses zweitältesten der Bach-Söhne stammt von Charles Burney, der ihn als den größten Pianisten und Komponisten für das Klavier beschrieb. Bevor ihn der reisende Musikjournalist Burney in Hamburg 1772 besuchte, hatte Bach schon ein (aus heutiger Sicht epochemachendes) pädagogisches Werk für Klavier verfasst: sein berühmter "Versuch über die wahre Art, das Clavier zu spielen" (1753/62).
Gewöhnungsbedürftiger Stil
Trotz aller Verehrung war der Stil Emmanuel Bachs auch für Burney gewöhnungsbedürftig. Er schreibt: "Man muss gestehen, dass der Stil dieses Komponisten so sehr von den übrigen abweicht, dass man sich notwendig erst ein wenig daran gewöhnen muss, eh man ihn recht empfinden kann."
Nicht ohne Form, aber mit dem Habitus der Form- und Regellosen stürmen diese Symphonien teilweise los. Der Vergleich zur "Sturm und Drang"-Bewegung liegt nahe. Beide Sinfonie-Zyklen Bachs fallen in die Zeit jener literarischen Bewegung in Deutschland zwischen 1767-85, der es um ein "gegen Tradition und Autorität gerichtetes Lebensgefühl" geht, um "Individualismus, Irrationalismus, Sprengung einer regelgebundenen Form in Leben und Kunst".
Tumult und Lärmen
Prototyp und Titelgeber dieser Bewegung war Friedrich Maximilian Klingers Schauspiel "Sturm und Drang" von 1776, das ursprünglich "Wirrwarr" hieß. Hier wird an einer Stelle ausgerufen: "Heida! nun einmal in Tumult und Lärmen, dass die Sinnen herumfahren wie Dachfahnen beim Sturm. (...) - Tolles Herz! du sollst mirs danken! Ha! tobe und spanne dich dann aus, labe dich im Wirrwarr."
Der letzte Satz aus Bachs fünfter jener sechs von van Swieten bestellten Symphonien für Streicher lässt sich wie die Musik zu Klingers Schauspiel hören. Er beginnt diesen Satz mit dissonanten Akkorden, die den Hörer überraschen, geradezu "anspringen" - kurz und hart gespielt vom Orchestra of the Age of Enlightenment unter der Leitung von Gustav Leonhardt (erster Teil unseres Audios).
Greller Streicherklang
Ein ähnlich greller Streicherklang ist auch vom französischen Ensemble Café Zimmermann zu hören. Allerdings ist das Tempo hier deutlich schneller und die Akkorde zu Beginn kräftiger, wuchtiger, was auch der Aufnahmetechnik geschuldet sein kann (zweiter Teil des Audiofiles).
Spektakulär und dramatisch klingt hier dieser äußerst unkonventionelle, freche letzte Satz aus Bachs Symphonie und man kann sich kaum vorstellen, dass diese Passage noch wilder klingen kann, ohne seine Musikalität zu verlieren, ohne zum bloßen Geräusch zu werden.
Alle Extreme übertroffen
Doch Il Giardino Armonico übertrifft wieder einmal alle Extreme, wie eine Aufnahme von den Internationalen Barocktagen Stift Melk vom Mai 1993 zeigt. Bach noch wilder, kürzer, schroffer, härter - zu hören im letzten Teil des Audiofiles.
Hör-Tipp
Ausgewählt, Mittwoch, 18. November 2009, 10:05 Uhr
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