Historische Analysen von Heinrich August Winkler

Was ist der Westen wirklich?

Was sind "westliche" Werte? Wo liegen die Grenzen der "westlichen" Toleranz? Bei der EU-Erweiterung oder der Integration von Menschen aus fremden Kulturen? Diesen Fragen widmet sich der deutsche Historiker Heinrich August Winkler in seinem neuen Buch.

Das Projekt des Westens ist - so Heinrich August Winkler - mit den Revolutionen in Amerika und in Frankreich bis zum Ende das 18. Jahrhunderts voll entwickelt. Wesentliche Inhalte sind die unveräußerlichen Menschenrechte, die Herrschaft des Rechts und die repräsentative Demokratie. Die Grundlage ist also transatlantisch, in den USA und in Europa gibt es aber dennoch unterschiedliche Entwicklungen.

Der Individualismus und die Unabhängigkeit vom Staat haben sich in den USA stärker entwickelt als im absolutistisch geprägten Europa, meint Winkler. Europa habe daher früher einen modernen Sozialstaat entwickeln können. Natürlich gebe es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen Europa und den USA, aber es seien in der Regel Auseinandersetzungen, die der unterschiedlichen Auslegung gemeinsamer Werte erwachsen. Diese Diskrepanzen seien in der Ära von George W. Bush stärker gewesen als derzeit unter Barack Obama.

Demokratie lässt sich nicht überstülpen

Das Projekt einer umfassenden Gesundheitsreform, mit der Barack Obama auf so starke Widerstände stößt, sei zum Beispiel durchaus europäisch geprägt. Bush und die amerikanischen Neokonservativen hätten übrigens völlig unhistorisch gehandelt, sagt Winkler, als sie Ländern mit einer völlig anderen Kultur und Tradition, wie dem Irak oder Afghanistan, Demokratie gleichsam überstülpen wollten.

Demokratie bedeute nämlich nicht nur Mehrheitsherrschaft und freie Wahlen. Eine Demokratie im westlichen Sinne brauche eine starke Zivilgesellschaft und Gewaltenteilung und so etwas müsse langsam wachsen. "Wenn es nicht möglich ist, das aus den Traditionen einer Gesellschaft heraus zu entwickeln, dann müssen solche Verwestlichungsprozesse scheitern", sagt Winkler.

Die schwierige Verwestlichung des Ostens

In Europa gibt es eine Vorgeschichte der Verwestlichung, die durch die verschiedenen Gewaltenteilungen geprägt ist, also zunächst durch die Trennung zwischen Kirche und Staat und dann zwischen fürstlicher und ständischer Gewalt im Mittelalter. Diese Gewaltenteilungen werden nur im westlichen, im lateinisch geprägten Europa vollzogen, nicht aber im orthodoxen Osten.

Das zeige sich bis heute zum Beispiel an Rumänien und Bulgarien als Mitglieder der EU, meint Winkler: "Viele Probleme, die diese beiden Länder mit der Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit haben - Stichwort Korruption - hängen mit ganz anderen Traditionen zusammen". Denn diese Länder hätten nicht die Chance gehabt, an den westlichen Emanzipationsprozessen teilzuhaben.

Passt die Türkei nach Europa?

Aus historischen Gründen ist Heinrich August Winkler auch gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Die Unterschiede zum Westen seien dort so tief verwurzelt, dass sie nicht in einem Verhandlungszeitraum von 15 bis 20 Jahren überwunden werden können, glaubt der Historiker. Gerade mit Gewaltenteilung und Religionsfreiheiten tue sich die Türkei nach wie vor schwer.

Winkler ist sich aber der geopolitischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Türkei für die EU durchaus bewusst und tritt deshalb für eine Art Zwischenstatus zwischen Mitgliedschaft und Nicht-Beitritt ein.

Westliche Werte nicht aushöhlen

Die Grenzen des Westens sind für die EU nicht nur geografisch in Punkto Erweiterung zu definieren, sondern auch im Inneren, vor allem im Bereich Integration. Hier dürfe man westliche Werte wie Toleranz, Trennung zwischen Staat und Religion und Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht aushöhlen lassen, betont Winkler.

Das Projekt des Westens verläuft in der Geschichte nicht geradlinig, es gibt immer wieder Widerstände und Rückschläge - im 19. und im 20. Jahrhundert besonders durch den Nationalismus. Er ist auch in Europa noch nicht gänzlich überwunden, wie etwa die Balkan-Kriege der 1990er Jahre gezeigt haben. Im Großen und Ganzen aber ist zumindest die EU, glaubt Heinrich August Winkler, auf gutem Weg, nationalstaatliche und übernationale Identitäten zu vereinen.

Hör-Tipp
Europa-Journal, Freitag, 20. November 2009, 18:20 Uhr

Buch-Tipp
Heinrich August Winkler, "Die Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert", C.H. Beck