Alte und neue Theorien

Eine kleine Geschichte der Gravitation

Die Schwerkraft kennt der Mensch, seit er existiert. Trotzdem entzieht sie sich dem Forschergeist beharrlich. Wie entsteht sie? Wie funktioniert sie? Wie lässt sich Gravitation aus den Eigenschaften der Grundbausteine allen Seins, den Quanten, ableiten?

Die Geschichte der Physik, der Wissenschaft von der Natur, kann man als eine Geschichte der Gravitation lesen, als die Historie jener Modelle und Theorien, die sich der Mensch zum scheinbar einfachen Phänomen des Hinunterfallens zusammenbastelte. Wohl gab und gibt es auch andere Teilgebiete der Naturwissenschaft, letztlich kam man aber immer irgendwie auf die Gravitation zurück.

Schon das erste systematische Weltmodell, das sich ein Mensch erdachte, und das man als ein "physikalisches" bezeichnen kann, das des alten Griechen Aristoteles, behandelte in seinem Kern das Problem Gravitation: Diese besteht demnach im natürlichen Bestreben jedes schweren Objekts, sich möglichst nahe zum Zentrum des Kosmos - dem Erdmittelpunkt - zu begeben.

Doch warum fallen Steine zur Erde, während eine Flamme in die Höhe lodert? Warum stehen der Mond und die Sonne am Himmel und stürzen nicht auf die Erde herab? Diese Fragen beantworte Aristoteles mit seiner Lehre von den vier (oder fünf, unter Hinzurechnung des Himmelselements Äther) Elementen: Ihre gesonderten Eigenschaften bestehen vor allem in ihrem unterschiedlichen gravitativen Verhalten. Zwei davon, Wasser und Erde, sind schwer, sie fallen herab. Die beiden anderen, Luft und Feuer, sind leicht, sie steigen auf, bewegen sich vom Weltmittelpunkt weg. - Zuletzt geht es dabei also um die Gravitation.

Galilei, vermessen und berechnen

Fast 2.000 Jahre später wird Galileo Galilei zum ersten Naturwissenschaftler im heutigen Sinn: "Messen, was man messen kann", lautet seine erste Devise. Die zweite: "Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben". Damit, mit dem Programm, das Universum erst zu vermessen, und die Ergebnisse dann in die Form mathematischer Konstrukte zu bringen, wird der Renaissance-Italiener zum "Erfinder der Physik", wie wir sie heute kennen.

Galilei hat vieles auch gleich selbst vermessen und erforscht, doch im Zentrum stand zuletzt wieder die Gravitation: Alle Objekte fallen grundsätzlich gleich schnell, unterliegen einer immer gleichen Erdbeschleunigung (von 9,81 Metern/Sekunde pro Sekunde). Beobachtete Unterschiede dabei verdanken sich Nebeneffekten wie dem Luftwiderstand. Sein Fallgesetz ist der Kristallisationskern von Galileis akribischen Vermessungen, der Punkt, an dem alles zusammen läuft.

Newton und die Geburt der Schwerkraft

Knapp 100 Jahre später integrierte Newton Galileis Fallgesetz und Johannes Keplers Planetenbahnen mittels einer neuen Mathematik zu einem Gesamtmodell, das nun tatsächlich "Gravitationstheorie" heißt.

Newtons Welt ist eine Welt der Kräfte. Kräfte sind das dynamische Element im Universum, für jegliche Veränderung in der Welt ist eine Kraft sowohl verantwortlich als auch nötig. Für alle diese Kräfte gilt das Grundpostulat: Kraft ist Masse mal Beschleunigung. Angewendet auf die Gravitation, sollte auch sie eine Kraft von dieser Art sein. Damit war die "Schwerkraft" geboren.

Einsteins Problem mit der Gravitationstheorie

Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich Albert Einstein ausnahmsweise einmal nicht mit der Gravitation. Einstein ist ein "Elektriker", ihn fasziniert das junge physikalische Teilgebiet des Elektromagnetismus. Konkret: die ungelösten theoretischen und praktischen Rätsel, welche die "Elektrodynamik der bewegten Körper" zu diesem Zeitpunkt aufgibt. Unter diesem Titel - "Zur Elektrodynamik bewegter Körper" - veröffentlicht der deutsch-italienisch-jüdische Schweizer 1905 jenes Modell, das bald danach "Spezielle Relativitätstheorie" heißen wird.

Und wieder: Einstein muss erkennen, dass seine Relativitätstheorie mit der Newtonschen Gravitationstheorie leider kollidiert.

Unvereinbare Gegensätze

Der fundamentale Widerspruch lässt sich an vielen Punkten festmachen. Etwa an der Schwerkraft von masseloser Strahlung, namentlich etwa des Lichts: Nach Newton existiert eine solche nicht, Licht wirkt, da masselos, nicht gravitativ. Der Relativitätstheorie zufolge ist das Gegenteil der Fall: Es ergibt sich aus der "berühmtesten Formel der Welt", Energie = Masse x Lichtgeschiwindigkeit zum Quadrat: Demnach kann man dem Energiegehalt jeder Strahlung eine "virtuelle" Masse zuordnen, und in deren Ausmaß muss auch Strahlung Schwerkraft ausüben.

Oder an der Frage, mit welcher Geschwindigkeit sich die Gravitation im Raum ausbreitet: Nach Newton wirkt sie an jedem Punkt des Raums sofort und instant an, breitet sich also mit unendlicher Geschwindigkeit aus. In der Relativitätstheorie kann aber nichts schneller sein als Licht. Andernfalls würde es in seine eigene Vergangenheit reisen, und unsere ganze Ordnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft käme komplett durcheinander. Zudem wäre dafür eine unendliche Energiemenge nötig.

Handfest wird der Widerspruch am berühmten Gedankenexperiment: Was passiert, wenn die Sonne plötzlich verschwindet? Verlässt die Erde ihre Bahn, an die sie durch die Schwerkraft der Sonne gebunden ist, sofort, im gleichen Moment? Oder erst nach jenen acht Minuten, die auch das Licht benötigt, um die Erde zu erreichen? Ein offensichtliches Paradoxon: Die Erde kreist der Relativitätstheorie zufolge weitere acht Minuten um jene Sonne, die gar nicht mehr da ist.

"Allgemeine Relativitätstheorie" soll Gravitation einpassen

Um die Relativitätstheorie zu retten, benötigt Einstein, wie er sofort erkennt, unaufschiebbar ein neues Modell zur Gravitation. Zehn Jahre später hat er es konstruiert. Er veröffentlicht im Alleingang jenes Ttitanenwerk, das nun "Allgemeine Relativitätstheorie" heißt, und das die Gravitation in sein relativistisches, dynamisches Raum-Zeit-Kontinuum einpasst.

Dabei wird die alte Schwerkraft allerdings zum beherrschenden Faktor, der Raum und Zeit überhaupt erst "aufspannt", und der das Universum insgesamt dominiert. So landete also auch der "Elektriker" Einstein wieder bei der Gravitation.

Die unbegreifliche Theorie: die Quantentheorie

Schließlich traten im 20. Jahrhundert die Teilchen- und Quantenphysiker auf, die den Quantencharakter jeglichen Seins postulieren: Alles, was es gibt, besteht zuletzt aus Quanten, die ihrerseits ganz bestimmte, allen diesen Quanten gemeinsame Quanteneigenschaften aufweisen. Ihre Theorie, heute "das Standardmodell" genannt, funktioniert wunderbar. Die Ergebnisse sind zwar hochgradig erstaunlich, unterminieren aber den gesunden Menschenverstand vollständig. Der berühmte Quantenphysiker Richard Feynman kommentierte das einmal so: "Wer behauptet, die Quantentheorie verstanden zu haben, beweist gerade damit, dass er sie nicht verstanden hat."

Die Quantentheorie ist und bleibt unbegreiflich, auch für ihre besten Kenner. Doch mit den beobachteten und gemessenen Tatsachen stimmen die Quanten-Berechnungen allemal und großartig überein.

In der Quantenphysik kann es keine Gravitation geben

Und schon wieder ist es die Gravitation, die die ungelösten Rätsel aufgibt. Kurz gesagt: Quantenteilchen, wie die Quantenphysik sie postuliert, und aus denen alle Materie besteht, können ein Phänomen wie die Gravitation, so wie die Relativitätstheorie sie beschreibt, gar nicht hervorbringen. Das ist unmöglich. Das Problem existiert bis heute, es ist ungelöst, und es ist das Rätsel, das der Physik verblieb.

Die vier Grundkräfte des Universums

Vier fundamentale Naturkräfte - oder "Wechselwirkungen" - haben die Physiker bislang ausgemacht: die "starke" und die "schwache", die innerhalb des Atomkerns wirken und diesen hervor bringen; von denen wir in unserem Alltag daher nichts direkt bemerken - außer der schlichten Tatsache, dass im Universum Dinge existieren und nicht buchstäblich alles in seine Quanten zerfällt. Drittens, den Elektromagnetismus, dem wir neben dem sichtbaren Licht und sonstiger Strahlung auch alles verdanken, was unter "Chemie" fällt. Und viertens: die Gravitation.

Doch während die anderen drei als weitgehend ausgeleuchtet und abgehakt gelten, ist es ausgerechnet die Gravitation, mit der sich Menschen und Wissenschaftler - bis zurück zu Aristoteles - schon am längsten beschäftigen, die das große ungelöste Rätsel blieb.

Die unfassbare Gravitation, oder die Schwerkraft, zu der Newton sie machte, wird die Geschichte der Physik noch eine Weile lang dominieren. So wie sie das Universum - laut Einstein - insgesamt dominiert.

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag 23. November bis Donnerstag, 26. November 2009, 9:30 Uhr